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Simone Weil

1

An die Existenz anderer menschlicher Wesen als solche zu glauben, ist Liebe.

2

Der Geist ist nicht gezwungen, an die Existenz von irgendetwas zu glauben. Deshalb ist das einzige Organ für den Kontakt mit der Existenz die Akzeptanz, die Liebe. Deshalb sind Freude und Realitätssinn identisch.

3

Die Aufmerksamkeit besteht darin, sein Denken zu umgehen, den Geist verfügbar, leer und für den Gegenstand durchlässig zu halten, die verschiedenen bereits erworbenen Kenntnisse, die man zu nutzen genötigt ist, in sich dem Geist zwar nahe und erreichbar, doch auf einer tieferen Stufe zu erhalten, ohne dass sie den Geist berührten. Der Geist soll hinsichtlich aller eigenen und schon ausgeformten Gedanken wie ein Mensch auf einem Berg sein, der vor sich hinblickt und gleichzeitig unter sich – jedoch ohne hinzusehen – viele Wälder und Ebenen wahrnimmt. Und vor allem soll der Geist leer sein, wartend, nichts suchend, aber bereit, den Gegenstand, der in ihn eingehen wird, in seiner nackten Wahrheit aufzunehmen. Die kostbarsten Güter soll man nicht suchen, sondern erwarten. Denn der Mensch kann sie aus eigenen Kräften nicht finden, und wenn er sich auf die Suche nach ihnen begibt, findet er statt ihrer falsche Güter, deren Falschheit er nicht zu erkennen vermag.

4

Ich habe das tief innere Bedürfnis, ja ich glaube, es ist meine Bestimmung, mein Leben unter den Menschen und in jedem menschlichen Milieu so hinzubringen, dass ich mich durch nichts von ihnen unterscheide, dass ich ihre Farbe annehme – zumindest in dem Ausmaß, als das Gewissen sich dem nicht widersetzt –, dass ich unter ihnen verschwinde, damit sie sich so zeigen, wie sie sind und ohne sich mir gegenüber zu verstellen; weil ich sie kennen lernen möchte, um sie zu lieben, so wie sie sind. Denn wenn ich sie nicht liebe, so wie sie sind, sind es nicht sie, die ich liebe, und meine Liebe ist nicht echt.

5

Mit reiner Liebe lieben heißt in den Abstand einwilligen, heißt den Abstand verehren zwischen einem selbst und dem, was man liebt.

6

Dieselben Worte [zum Beispiel, ein Mann sagt zu seiner Frau: „Ich liebe dich“] können gewöhnlich oder außerordentlich sein, je nach der Art, wie sie ausgesprochen werden. Und diese Art des Aussprechens hängt ab von der Tiefe der Wesensschicht, aus der sie stammen, ohne dass der Wille hier etwas vermöchte. Und, in wunderbarer Übereinstimmung, berühren sie bei dem, der zuhört, die gleiche Schicht. So kann dieser, wenn er die Gabe der Unterscheidung besitzt, erkennen, was diese Worte wert sind.

7

Es gibt eine persönliche und menschliche Liebe, die rein ist und die eine Vorahnung und einen Abglanz der göttlichen Liebe in sich trägt. Das ist die Freundschaft, vorausgesetzt man verwendet dieses Wort nur in seinem strengsten Sinne.

Jede Vorliebe für ein menschliches Wesen ist notwendigerweise etwas anderes als die Nächstenliebe. Die Nächstenliebe macht keine Unterschiede. Wendet sie sich irgendwo einem besonderen Einzelwesen zu, so nur deshalb, weil ein zufälliges Unglück den Austausch des Mitgefühls und der Dankbarkeit hervorruft. Sie hält sich allen Menschen gleicherweise zur Verfügung, insofern als das Unglück alle zu einem solchen Austausch veranlassen kann.

Die persönliche Vorliebe für ein bestimmtes menschliches Wesen kann von zweierlei Art sein. Entweder sucht man in dem anderen ein bestimmtes Gut oder man braucht ihn. Es besteht aber kein Widerspruch zwischen dem Bestreben, bei einem menschlichen Wesen sein Wohl zu finden, und dem Bestreben, ihm Gutes erweisen zu wollen. Eben darum fehlen die Vorbedingungen der Freundschaft, wenn der Beweggrund, der uns zu einem anderen Wesen treibt, nur im Streben nach dem eigenen Wohl besteht.

8

Gegenseitigkeit gehört zum Wesen der Freundschaft. Fehlt es auf einer Seite an jedem Wohlwollen, so muss der andere die Zuneigung in sich selbst unterdrücken, aus Achtung vor dem freien Willen des anderen, der unantastbar bleibt.

9

Wenn man ein menschliches Wesen in irgendeinem Grade braucht, so kann man nicht dessen Wohl wollen, es sei denn, man höre auf, sein eigenes Wohl zu wollen. Dort, wo eine Notwendigkeit vorliegt, bestehen Zwang und Herrschaft. Was man braucht, davon ist man abhängig, außer man sei dessen Eigentümer. Das zentrale Gut für jeden Menschen ist die freie Verfügungsgewalt über sich selbst.

Die häufigste Ursache der Notwendigkeit bei den Zuneigungen, die Menschen aneinander binden, ist eine bestimmte Kombination von Sympathie und Gewohnheit. Wie im Falle des Geizes oder der Süchtigkeit genügt der Verfluss der Zeit, damit das, was zuerst ein Streben nach einem Gut war, sich schließlich in ein Bedürfnis verwandelt. Es ist grässlich, wenn die Bindung eines Wesens an ein anderes sich einzig und allein auf Bedürftigkeit gründet. Es gibt nur wenige Dinge auf der Welt, die dem an Hässlichkeit und Grauen gleichkämen. Es haftet immer etwas Entsetzliches an allen Umständen, unter denen ein menschliches Wesen das Gute sucht und einzig die Bedürftigkeit findet.

10

Wenn ein Mensch an einen anderen durch Zuneigung gebunden ist, in der irgendein Grad von Notwendigkeit enthalten ist, so ist es unmöglich, dass er zugleich seine eigene Autonomie und die des anderen zu wahren wünscht. Unmöglich aufgrund des Mechanismus der Natur. Möglich jedoch durch das wunderbare Eingreifen des Übernatürlichen. Dieses Wunder ist die Freundschaft. Durch dieses Wunder willigt ein menschliches Wesen ein, eben jenes andere Wesen, das ihm wie eine Nahrung unentbehrlich ist, aus der Ferne zu betrachten, ohne sich ihm zu nähern.

11

Die Freundschaft hat etwas Allumfassendes. Sie besteht darin, dass man ein menschliches Wesen so liebt, wie man jeden Einzelnen des Menschengeschlechts lieben können möchte. So wie ein Mathematiker eine besondere Figur betrachtet, um aus ihr die allgemeinen Eigenschaften des Dreiecks abzuleiten, genauso richtet der, welcher zu lieben versteht, eine allgemeine und allumfassende Liebe auf ein besonderes menschliches Einzelwesen.

12

Die Einwilligung in die Bewahrung der Autonomie bei einem selbst wie bei dem anderen ist ihrem Wesen nach etwas allgemein Gültiges. Um Freundschaft handelt es sich nur dort, wo der Abstand eingehalten und respektiert wird.

Der bloße Umstand, dass es einem Vergnügen bereitet, in irgendeiner Ansicht mit dem geliebten Wesen übereinzustimmen, oder jedenfalls der Umstand, dass man eine solche Übereinstimmung der Ansichten begehrt, beeinträchtigt gleichzeitig die Reinheit der Freundschaft wie die intellektuelle Redlichkeit. Dies ist sehr häufig. Doch eine reine Freundschaft ist ja auch selten.

Sind die Bande der Zuneigung und der Notwendigkeit zwischen menschlichen Wesen nicht auf übernatürliche Weise in Freundschaft verwandelt worden, dann ist die Zuneigung nicht nur unrein und niedrig, sondern sie ist auch mit Hass und Abneigung vermischt. Wir hassen das, wovon wir abhängen. Wir verabscheuen das, was von uns abhängt. Bisweilen vermischt sich dies nicht nur mit der Zuneigung, sondern sie verwandelt sich gänzlich in Hass und Abscheu.

13

Als Christus zu seinen Jüngern sagte: „Liebet einander!“, machte er ihnen nicht die Anhänglichkeit zur Vorschrift. Da sie in der Tat durch manche Bande miteinander verknüpft waren, verursacht durch ihre gemeinsamen Gedanken, das gemeinsame Leben, die Vertrautheit, gebot er ihnen, diese Bande in Freundschaft umzuwandeln, damit sie sich nicht in unreine Fesseln oder in Hass verkehrten.

Die reine Freundschaft ist ein Bild der ursprünglichen und vollkommenen Freundschaft, wie die der Trinität, die das innerste Wesen Gottes ausmacht. Ohne die Gegenwart Gottes in jedem von beiden ist es unmöglich, dass zwei menschliche Wesen eines sind und dennoch auf das gewissenhafteste den trennenden Abstand zwischen sich einhalten. Der Schnittpunkt der Parallelen liegt im Unendlichen.

14

Die Freundschaft ist besudelt, sobald die Bedürftigkeit, und sei es nur für einen Augenblick, die Oberhand gewinnt über den Wunsch, bei dem einen wie dem anderen den Konsens des freien Willens zu bewahren. Unrein ist jede Freundschaft, in der sich auch nur eine Spur des Verlangens, zu gefallen, oder des umgekehrten Verlangens findet. In der vollkommenen Freundschaft sind diese beiden Wünsche gänzlich abwesend.

Weil die reine Freundschaft weder das Verlangen zu gefallen noch das umgekehrte Verlangen kennt, darum besteht in ihr gleichzeitig mit der Zuneigung so etwas wie eine völlige Gleichgültigkeit. Obwohl sie ein Band zwischen zwei Personen ist, hat sie etwas Unpersönliches. Sie tastet die Unparteilichkeit nicht an. Sie hindert uns in nichts, die Vollkommenheit des himmlischen Vaters nachzuahmen, der Regen und Sonnenschein überallhin gleich verteilt.

15

Die Wirklichkeit des Lebens ist nicht das Gefühl, sondern die Tat – ich meine damit die Tat sowohl im Denken als auch im Tun. Jene, die nur von Gefühlen leben, sind, materiell und moralisch, nichts als Parasiten im Vergleich zu den arbeitenden und schöpferischen Menschen, die allein als Menschen zu bezeichnen sind. Ich möchte hinzufügen, dass diese Letzteren, die nicht primär auf Gefühle aus sind, trotzdem viel lebendigere, viel tiefere, weniger artifizielle und viel echtere Gefühle zurückbekommen, als jene, die nach ihnen suchen. Schließlich basiert ja die Suche nach Gefühlen auf einem Egoismus, der mich erschreckt, soweit es mich selbst betrifft. Sie hindert natürlich nicht daran, zu lieben, aber sie führt dazu, die geliebten Menschen nur als Gelegenheit zum Genießen oder zum Leiden anzusehen und völlig zu vergessen, dass sie eigene Wesen sind. Man lebt inmitten von Phantomen. Man träumt, anstatt zu leben.

16

Lerne, die Freundschaft abzuweisen oder vielmehr den Traum der Freundschaft. Die Freundschaft zu begehren ist ein großer Fehler. Die Freundschaft soll eine Freude sein, die unentgeltlich zuteil wird wie die Freuden der Kunst oder des Lebens. Man muss sie ablehnen, um würdig zu sein, sie zu empfangen. Sie ist eine Art Gnade an. Sie gehört zu jenen Dingen, die man als Draufgabe erhält. Jeder Traum von Freundschaft verdient zerbrochen zu werden. Es ist kein Zufall, dass du niemals geliebt wurdest ... Das Verlangen danach, der Einsamkeit zu entrinnen, ist eine Feigheit. Die Freundschaft kann nicht gesucht, nicht erträumt, nicht begehrt werden; sie wird ausgeübt [sie ist eine Tugend]. Diesen ganzen Wust unreinen und verworrenen Gefühls hinausfegen. Schluss!

Oder vielmehr – denn man soll Lebendiges in sich nicht allzu streng ausmerzen – alles, was in der Freundschaft nicht in wirklich gegenseitigen Austausch übergeht, soll in Nachdenken übergehen. Es ist gar nicht nötig, auf die inspirierende Kraft der Freundschaft zu verzichten. Was man sich unerbittlich verbieten sollte, ist das Schwelgen in erträumten Genüssen des Gefühls. Denn das ist Verderbnis. Und es ist ebenso töricht, wie von Musik oder Malerei zu träumen. Die Freundschaft lässt sich von der Wirklichkeit nicht ablösen, ebenso wenig wie das Schöne. Sie ist ein Wunder wie das Schöne. Und das Wunder besteht einfach in der Tatsache, dass sie existiert. Mit fünfundzwanzig Jahren ist es höchste Zeit, mit seinem Jünglingsalter endlich gründlich Schluss zu machen.

17

Unsere Liebe soll sich ebenso weit durch den gesamten Raum erstrecken, sie soll sich ebenso gleichmäßig in alle Bereiche des Raumes verteilen wie das Licht der Sonne. Wenn eine Seele dahin gelangt ist, dass ihre Liebe gleichmäßig das ganze Universum erfüllt, so wird diese Liebe jenes goldgeflügelte Küchlein, das die Schale des Welteies durchbricht. Danach liebt sie das Universum nicht von innen, sondern von außen, von jener Stätte aus, wo die Weisheit Gottes thront, der unser erstgeborener Bruder ist. Eine solche Liebe liebt die Wesen und Dinge nicht in Gott, sondern von Gott her. Da sie bei Gott ist, sendet sie von dort her ihren Blick, der mit dem Blicke Gottes vereint ist, auf alle Wesen und Dinge herab.

Die Freundschaft ist die einzige rechtmäßige Ausnahme von der Verpflichtung, nur auf eine universale Weise zu lieben. Aber sie ist meines Erachtens auch nur dann wahrhaft rein, wenn sie sozusagen auf allen Seiten von einer kompakten Hülle der Gleichgültigkeit umgeben ist, die einen Abstand schafft.

18

Die Vorstellung ist immer an ein Begehren gebunden, das heißt an einen Wert. Nur das gegenstandslose Begehren ist frei von jeder Vorstellung. Gott ist wirklich gegenwärtig in allen Dingen, welche die Vorstellung nicht verschleiert. Das Schöne nimmt das Begehren in uns gefangen und entleert es jeden Gegenstandes, in dem es ihm einen gegenwärtigen Gegenstand vorstellt und so verhindert, dass sein Drängen sich auf die Zukunft richte.

Hierin beruht der Wert der keuschen Liebe. Jedes Begehren nach Genuss geht auf Zukünftiges, auf Trügerisches. Begehrt man hingegen nichts weiter, als dass ein Wesen existiere, so existiert es: Was bleibt dann noch zu wünschen übrig? Dann ist das geliebte Wesen nackt und wirklich, unverhüllt von imaginärer Zukunft. Der Geizige betrachtet seinen Schatz niemals, ohne ihn in seiner Einbildung x-mal größer zu sehen. Man muss gestorben sein, um die Dinge nackt zu sehen.

19

Die Liebe will immer weiter und weiter gehen. Aber sie hat eine Grenze. Ist diese Grenze überschritten, schlägt die Liebe in Hass um. Um diesen Wechsel zu vermeiden, muss die Liebe selber eine andere werden.

20

Allem, dem man anhaftet, ist man durch einen Strick verbunden, und jeder Strick kann durchschnitten werden. Ebenso ist man mit dem Gott seiner Einbildung durch einen Strick verbunden, dem Gott, den wir mit einer Liebe lieben, die ebenfalls Verhaftung ist. Dem wirklichen Gott aber ist man nicht verhaftet, und deshalb gibt es hier keinen Strick, der durchschnitten werden könnte. Er tritt in uns ein. Er allein kann in uns eintreten. Alle anderen Dinge bleiben draußen, und das Einzige, was wir von ihnen erkennen, sind die Spannungen unterschiedlichen Grades und in veränderlicher Richtung, die sich dem Strick mitteilen, wenn sie oder wir den Ort verändern.

21

Liebe ist nicht Tröstung, sie ist Licht.

22

Bei dem Glücklichen besteht die Liebe darin, dass er das Leid des unglücklichen Geliebten teilen möchte.

Bei dem Unglücklichen besteht die Liebe darin, dass er erfüllt ist vom Bewusstsein, dass das geliebte Wesen in der Freude ist, ohne dass er selbst an dieser Freude teilhat, ja sogar ohne sich zu wünschen, daran teilzuhaben.

23

Es ist nicht meine Angelegenheit, an mich zu denken. Meine Angelegenheit ist es, an ihn zu denken. Und es ist seine Sache, an mich zu denken.

24

Fällt man, in der Liebe verharrend, bis zu dem Punkt, wo man den Schrei: „Gott, warum hast Du mich verlassen?“ nicht mehr zurückhalten kann, und verharrt man dann an diesem Punkt, ohne zu lieben aufzuhören, so berührt man am Ende etwas, das weder Unglück noch Freude mehr ist, sondern das reine, übersinnliche, Freude und Leid gemeinsame, innerste, wesentlichste Wesen, nämlich die Liebe Gottes. Dann weiß man, dass die Freude der innigste Kontakt mit Gottes Liebe ist; dass das Unglück die Beschädigung dieses Kontakts ist, wenn sie schmerzt, und dass es einzig und allein auf den Kontakt selbst ankommt und nicht auf seine Art und Weise.

25

Wir befinden uns im Irrealen, im Traum, grundsätzlich. Auf unsere imaginäre Sicht zu verzichten, nicht nur durch unsere Intelligenz, sondern auch im Bereich der Einbildungskraft unserer Seele, heißt, zum Wirklichen, zum Ewigen zu erwachen, das wahre Licht zu schauen, das wahre Stille zu vernehmen. Dann findet eine Umwandlung direkt an der Wurzel unseres Empfindungsvermögens statt in der Art und Weise unseres unmittelbaren Erfassens sinnlicher und psychologischer Eindrücke. Eine ähnliche Umwandlung, wie sie eintritt, wenn wir abends an der Straße, dort, wo wir zuerst einen zusammengekauerten Menschen wahrzunehmen glaubten, plötzlich einen Baum erkennen; oder wenn wir das, was wir für ein Flüstern von Stimmen hielten, als ein Rascheln des Laubs erkennen. Man sieht die nämlichen Farben, man hört die nämlichen Geräusche, doch nicht auf die nämliche Weise.

Sich seiner falschen Göttlichkeit entleeren, sich selbst verneinen, darauf Verzicht tun, sich in seiner Einbildung für den Mittelpunkt der Welt zu halten, alle Punkte der Welt als ebenso viele gleichberechtigte Mittelpunkte und den wahren Mittelpunkt als außerhalb der Welt gelegen erkennen, heißt, einverstanden zu sein mit der Herrschaft der mechanischen Gesetze der Materie und der Wahlfreiheit jeder Seele. Dieses Einverstandensein ist Liebe.

26

Christus hat uns gelehrt [→ im Gleichnis vom barmherzigen Samariter], dass die übernatürliche Nächstenliebe der Austausch des Mitgefühls und der Dankbarkeit ist, der wie ein Blitz stattfindet zwischen zwei Wesen, von denen eines mit dem menschlichen Personsein ausgestattet und das andere dessen beraubt ist. Einer von beiden ist nur ein Häufchen nacktes Fleisch, leblos und blutend an einem Straßengraben, ein Namenloser, von dem niemand etwas weiß. Die an diesem Etwas vorübergehen, bemerken es kaum und haben einige Augenblicke später schon vergessen, dass sie es überhaupt wahrgenommen haben. Ein Einziger hält inne und wendet ihm seine Aufmerksamkeit zu. Was hierauf an Handlungen erfolgt, ist nur die automatische Wirkung dieses Augenblickes der Aufmerksamkeit. Diese Aufmerksamkeit ist schöpferisch.

Da die Nächstenliebe auf der schöpferischen Aufmerksamkeit beruht, so gleicht sie dem Genie. Die schöpferische Aufmerksamkeit besteht darin, dass man wirklich aufmerksam ist auf das, was nicht existiert. Das Menschsein ist in diesem leblosen anonymen Fleisch am Rande der Straße nicht sichtbar. Der Samariter, der innehält und schaut, wendet dennoch diesem Nicht-Menschsein seine Aufmerksamkeit zu, und die daraus folgenden Handlungen sind ein Beweis, dass es sich um wirkliche Aufmerksamkeit handelt.

Der Glaube, sagt Paulus, ist das Schauen dessen, was wir nicht sehen. In diesem Augenblick der Aufmerksamkeit ist der Glaube ebenso gegenwärtig wie die Liebe.

Die Liebe sieht das Unsichtbare.

27

Das Unglück lässt Gott auf eine Zeit abwesend sein, abwesender als ein Toter, abwesender als das Licht in einem völlig finsteren Kerkerloch. Eine Art von Grauen überflutet die ganze Seele. Während dieser Abwesenheit gibt es nichts, das man lieben könnte. Das Schreckliche ist, dass, wenn die Seele in diesen Finsternissen, wo nichts ist, was sie lieben könnte, aufhört zu lieben, und dann die Abwesenheit Gottes endgültig wird. [Die einzige Rettung für den Menschen in dieser Verzweiflung besteht im Weiterlieben, „ins Leere hinein“, in einer Liebe zu Gott, die nicht reaktiv ist, Antwort auf erfahrenes Glück, kindliche Dankbarkeit, sondern ein Akt, der über alle Erfahrung hinausgeht.] Die Seele muss fortfahren, ins Leere hinein zu lieben, oder zumindest lieben zu wollen, sei es auch nur mit dem winzigsten Teil ihrer selbst. Dann eines Tages naht Gott selbst und zeigt sich ihr und enthüllt ihr die Schönheit …

1, 2, 6, 16, 18, 19, 20, 22: Simone Weil, Attente de Dieu, Préface de J. M. Perrin
3, 4, 7, 8, 9, 10, 11, 12, 13, 14, 17, 23, 24, 25, 26, 27: Simone Weil, La pesanteur et la grâce
15: Simone Weil, La condition ouvrière
5, 21, 27 [Satz in Klammer]: Quelle nicht erinnerlich
Übersetzung: Siglinde Schnitzler
Auswahl: Andreas Marschler