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Bertrand Russell

1

Die Liebe reißt die harten Mauern um das Ich ein und bringt ein neues Wesen hervor, das aus zwei in einem besteht.

2

Es gibt ein psychologisches Hindernis für die volle Entfaltung der Liebe, und zwar die von vielen Menschen empfundene Furcht vor der Preisgabe des eigenen Ich. Das ist ein törichtes und ziemlich modernes Furchtgefühl. Individualität ist nicht Selbstzweck, sondern etwas, das in fruchtbare Berührung mit der Welt kommen und dadurch sein Isoliertsein verlieren muss. Eine Individualität, die in einem Glaskasten aufbewahrt wird, verwelkt, während eine, die sich im Umgang mit Menschen frei verausgabt, bereichert wird.

3

Die Liebe hat ihre ureigenen Ideale und ihre ureigenen moralischen Maßstäbe. Sie ist eine eigenmächtige Kraft, die, wenn man ihr die Zügel schießen lässt, nicht in den von Gesetz und Brauch gezogenen Grenzen bleibt.

4

In allen Beziehungen hat man der Moral gestattet, die Liebe zu vergiften, sie mit Düsternis, Furcht, gegenseitigem Missverstehen, Reue und Nervenbelastungen zu erfüllen und den körperlichen Geschlechtstrieb und den geistigen Eros in zwei Bezirke zu trennen, wobei der eine gemein und der andere steril gemacht wurde. So sollte das Leben nicht gelebt werden. Die animalische und die geistige Natur sollten nicht im Kampf miteinander liegen. Keine der beiden ist unvereinbar mit der anderen und keine kann ihre volle Erfüllung finden außer in Verbindung mit der anderen.

5

Die Liebe ist in ihrer höchsten Vollendung frei und furchtlos und besteht zu gleichen Teilen aus Körper und Seele; ohne Angst vor Idealisierung, weil eine physische Grundlage da ist, und ohne Angst vor der physischen Grundlage, die vielleicht mit der Idealisierung in Konflikt kommen könnte.

6

Die Liebe sollte ein Baum sein, dessen Wurzeln tief in der Erde stecken, dessen Zweige aber weit in den Himmel ragen. Aber die Liebe kann nicht wachsen und gedeihen, wenn sie von Tabus und abergläubischen Angstvorstellungen eingeengt und von vorwurfsvollen Worten und dem Schweigen des Grauens umgeben ist.

7

Die Liebe zu fürchten bedeutet das Leben zu fürchten, und wer das Leben fürchtet, ist bereits zu drei Vierteln tot.

Bertrand Russell, Ehe und Moral, Verlag Darmstädter Blätter, Darmstadt 1984