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Rainer Maria Rilke

An Ilse Jahr

Château de Muzot sur Sierre, am 22. Februar 1923

Liebes Mädchen, manche Sonne und manches Kerzenlicht hat seit Weihnachten durch deinen leuchtenden Scherenschnitt geschienen und hat ihn mir lebhaft und herzlich gemacht, die Gestalt darin, deine und deine hohen Gräser und deinen Mond und deine Sterne …; oft, wenn ich durchsah, wars wie deines Wachstums grünes Blut, du junge Blume, das sich drin regte, dein Vertrauen bis ins Leid hinein und deine Freude zu allem, was des Lebens ist. Endlich muss ich dir sagen, dass das alles nicht verloren war an mich, ob ich gleich schwieg! Ich bin diesen Winter entlang ein schlechter Briefschreiber, trotz meiner großen Einsamkeit und meiner langen Abende. Das kommt daher, dass sich meine Feder – [es ist ja leider die gleiche, die die Arbeit und die Wege des brieflichen Umgangs zu leisten hat!] – den vorigen Winter in unendlicher Aufgabe erschöpft hat und, heuer, nur für die Übertragungen ausreicht, die ich mir vorgenommen habe, und für das Nötigste im Epistolaren, was noch immer, bei meiner enorm ausgewachsenen Korrespondenz, ein Beträchtliches ist.

Aber ich bin sicher, dass du mich verstehst, du Liebe im Innersten Bewegte, wenn ich dich bitte, dein Zu-mir-Sprechen [sei es nun ein nur Gefühltes oder ab und zu Hingeschriebenes] unabhängig zu halten von meiner sichtbaren Erwiderung; so wie du eingestellt bist, kann es dir nicht fehlen, mich erwidern und antworten zu fühlen, auch wenn ich zunächst, auch wenn ich lange schweige.

Vielleicht auch wendest du dich gar nicht so sehr an den, der ich bin; vielleicht redest du den an und jubelst mit dem, der ich vor zwanzig Jahren war, als ich jene Bücher schrieb, die dir die nächsten wurden, unmittelbar deine, sodass du durch sie zuerst zum Menschen, zum Menschlich-Brüderlichen hin offen und flutend wurdest. [… das, dieser Anschluss an die menschliche Nachbarschaft und Nähe, widerfuhr auch mir erst sehr spät, und wäre mir ohne gewisse Zeiten in meiner Jugend, die ich in Russland verlebte, wohl kaum je so rein und so vollkommen vergönnt gewesen, wie man ihn doch muss erfahren dürfen, um ohne falsche Nieten ins Ganze, ins Herrliche des Lebens eingelassen zu sein. Ich fing mit den Dingen an, die die eigentlichen Vertrauen meiner einsamen Kindheit gewesen sind, und es war schon viel, dass ich es, ohne fremde Hilfe, bis zu den Tieren gebracht habe … Dann aber tat sich mir Russland auf und schenkte mir die Brüderlichkeit und das Dunkel Gottes, in dem allein Gemeinschaft ist. So nannte ich ihn damals auch, den über mich hereingebrochenen Gott, und lebte lange im Vorraum seines Namens, auf den Knien … Jetzt würdest du mich ihn kaum je nennen hören, es ist eine unbeschreibliche Diskretion zwischen uns, und wo einmal Nähe war und Durchdringung, da spannen sich neue Fernen, so wie im Atom, das die neue Wissenschaft auch als ein Weltall im Kleinen begreift. Das Fassliche entgeht, verwandelt sich, statt des Besitzes erlernt man den Bezug, und es entsteht eine Namenlosigkeit, die wieder bei Gott beginnen muss, um vollkommen und ohne Ausrede zu sein. Das Gefühlserlebnis tritt zurück hinter einer unendlichen Lust zu allem Fühlbaren …, die Eigenschaften werden Gott, dem nicht mehr Sagbaren, abgenommen, fallen zurück an die Schöpfung, an Liebe und Tod …; es ist vielleicht immer wieder nur das, was schon an gewissen Stellen im Stundebuch sich vollzog, dieser Aufstieg Gottes aus dem atmenden Herzen, davon sich der Himmel bedeckt, und sein Niederfall als Regen. Aber jedes Bekenntnis dazu wäre schon zu viel. Mehr und mehr kommt das christliche Erlebnis außer Betracht; der uralte Gott überwiegt es unendlich. Die Anschauung, sündig zu sein und des Loskaufs zu bedürfen als Voraussetzung zu Gott, widersteht immer mehr einem Herzen, das die Erde begriffen hat. Nicht die Sündhaftigkeit und der Irrtum im Irdischen, im Gegenteil, seine reine Natur wird zum wesentlichen Bewusstsein, die Sünde ist gewiss der wunderbarste Umweg zu Gott – – –, aber warum sollten die auf Wanderschaft gehen, die ihn nie verlassen haben? Die starke innerlich bebende Brücke des Mittlers hat nur Sinn, wo der Abgrund zugegeben wird zwischen Gott und uns –; aber eben dieser Abgrund ist voll vom Dunkel Gottes, und wo ihn einer erfährt, so steige er hinab und heule drin [das ist nötiger, als ihn überschreiten]. Erst zu dem, dem auch der Abgrund ein Wohnort war, kehren die vorausgeschickten Himmel um, und alles tief und innig Hiesige, das die Kirche ans Jenseits veruntreut hat, kommt zurück; alle Engel entschließen sich, lobsingend zur Erde!

Du bist zu jung, liebes Mädchen, um jetzt, auf der Stelle, zu verstehen, was ich meine; aber siehst du, eines ist mir jetzt wichtiger als alles Übrige, genau zu sein. Ich wollte nicht, dass dein liebes Herz mich dort suche, wo ich nicht mehr bin; deshalb sollst du mich ja nicht verlieren, im Gegenteil, deine Zuwendung, auch zu meinem einstigen Gemüt, kann sich nur klären, wenn du weißt, in welchem Geiste es sich entfaltet hat –. Die Geheimnisse sind größer, als du jetzt schon ahnen kannst, aber du weißt schon viel von ihnen, da du schreiben konntest, es sei, auf deiner „geliebten Gotteserde“ alles schön, nur eben alles „verschieden schön“. Fass das ganz weit und lass dich nicht erschrecken oder beirren.

Und nun leb wohl mir für dieses Mal:

Rainer Maria

Briefe