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Rainer Maria Rilke

An Anita Forrer

Locarno, 2. Februar 1920

Hören Sie, Anita, werfen Sie diese Bedrückung ab, von einem Tag zum anderen, gleich, nichts ist leichter als das, denn es liegt nicht das mindeste Gewichtchen von Schuld oder Hässlichkeit in dem, was Sie da mit sich herumtragen: Wohl liegt das Schwere darin von etwas, womit noch keiner fertig geworden ist, glauben Sie nicht, dass auch für den Besten und Sichersten, wenn er sich nicht etwa durch moralische Bedenken [die aber gewiss im Innerlichsten des Lebens keine Anwendung haben] sichert, glauben Sie nicht, dass für irgendjemanden auf der Welt derartige Überwältigungen vermeidlich sind [besonders in den Jahren des Übergangs]. Für die aber gilt, was für alle Verwandlungen von Mensch zu Mensch maßgebend bleibt, dass man nie eine Beziehung in ihren Einzelheiten von außen ansehen und abschätzen darf: Was sich zwei Menschen in ihrer Innigkeit zueinander geben und gewähren mochten, bleibt für alle Zeit ein Geheimnis ihrer jedes Mal unbeschreiblichen Vertraulichkeit. Meinten sie in einem gewissen Moment, sich so oder so noch zärtlicher beglücken zu dürfen, so mag das ein kleiner Irrtum gewesen sein, indem sie damit nicht ihrem Glücke dienten, sondern ihrer Sehnsucht und sich Beunruhigungen ins Blut warfen, die ihnen nachträglich bedrängend werden konnten, – vielleicht, aber wer entscheidet das? Vielleicht hatten sie auch recht mit dieser Hingabe, die so unbeschreiblich unschuldig ist wie alles, was in der Liebe aus dem bloßen Müssen und Nicht-anders-Wissen hervorgeht – niemand darf wagen, das, was da geschehen ist, von außen abzuurteilen; eine solche Entzückung und Freude, wie weit sie auch geht, kann einen Augenblick ganz und gar seelischer Verwandlung heraufrufen, und da man meinte, in der sogenannten Sinnlichkeit eine neue Erfahrung zu tun, war man vielleicht schon ganz im Vorsprung der dadurch irgendwohin entzückten Seele. Das alles, Anita, hängt ja so viel geheimnisvoller zusammen, man muss diesen Kräften gegenüber nur Demut haben, den Widerstand leistet die Unschuld selbst, die in uns unzerstörbar ist, wenn wir uns nicht zur Schuld überreden lassen.

Die Unklarheiten und Unsicherheiten auf diesem Gebiet haben in unserer Zeit so fürchterlich überhand genommen, in der Tat hat ein junger Mensch fast niemals den Beratenden und Beschützenden zur Seite, der ihm Not täte, auch in seiner Mutter nicht [die ratlos ist, wie alle Welt], darum heißts gerade, von der eigenen Unschuld aus sich orientieren, unbeirrt und arglos. Verständige Menschen arbeiten schon lange daran, den Liebesbeziehungen innerhalb des eigenen Geschlechts die hässlichen Verdächtigungen zu nehmen, mit denen die Konvention sie überladen hat – aber mir scheint auch diese Arbeit und Anschauungsweise nicht die richtige zu sein. Sie isoliert einen Vorgang, der jedes Mal nur innerhalb aller seiner Umkreise dürfte in Betracht genommen werden, sie macht ein unaussprechlich Besonderes nur deshalb, weil es über jeden hereinbrechen kann, zum Allgemeinen, ja recht eigentlich Gemeinen, sie behält davon schließlich nur noch die physische Erscheinung übrig und vergisst, in wie unerreichbare und überschwängliche Zusammenhänge dieses Eine [nur scheinbar zur Bezeichnende] eingesetzt ist. Wir wissen nicht, welches die Mitte einer Liebes-Beziehung ist, welches ihr Äußerstes, Unübertrefflichstes und Seligstes sei: Manchmal vielleicht wird diese Mitte mit der letzten und süßesten Innigkeit der Körper gegeben sein [auch zwischen Frauen], darüber dürfte niemand Richter sein als die verschwiegene Verantwortlichkeit eben dieser Liebenden und Genießenden selbst. Nicht dieses Sich-einander-Schenken wäre ein Abweg für sie, höchstens die Unsicherheit wäre es, ob sie damit wirklich sich zu jener anhaltenden Steigerung verhelfen, zu der sich gegenseitig anzutreiben, die eigentliche Lust und Sehnsucht der Liebe ist. Nur wenn es damit etwas zwischen ihnen gäbe, was sie gegenseitig schwerer, trüber, undurchsichtiger macht, hätten sie Unrecht, sich in jene Hingegebenheiten zu wagen, dann allerdings bestünde die Gefahr, dass sie in ihnen irgendwie stecken bleiben. Denn es darf keine Zärtlichkeit der Liebe Macht haben über die Liebe selbst, keine darf mit der Gewalt der blinden Wiederholung sich aufdrängen, immer muss wieder eine ganz neue aus der Unerschöpflichkeit des Gefühls geboren werden.

„Schuld“ [man muss diesen Ausdruck sparsam gebrauchen] hat höchstens der „aufklärende“ Arzt, denn Aufklärung heißt nichts anderes, als die Unschuld messen mit dem Maße der Schuld! Genau genommen richtet sie sich aber nur an den Verstand und auf dem Umweg über ihn an das Gewissen: In den eigentlichen Bereich der Unschuld dringt keine „Aufklärung“ ein, dort ist eine heilige dunkle Nacht – seien Sie weiter in ihr, Anita, arme Anita, in der Unschuld. Und dies sei Ihnen Vorsatz: nie eine Einzelheit und Erscheinung der Liebe außerhalb des Gefühls zu bedenken, mit dem sie heraufgekommen war – das ist der stärkste Schutz vor jeder Überwältigung –, das erzieht immer, die ganze Liebe zu meinen und zu leisten, in der gibt es kein Unterscheidbares. Seele ist Körper in ihr und Körper Seele, und die Seligkeit in ihr hat unzählige Stellen und Mittel, und es überwiegt keines das andere.

Rainer

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