Worte Bilder Töne Neu Impressum Reinhard
           

Rainer Maria Rilke

An Clara Rilke

Paris, am 19. Oktober 1907

Du erinnerst sicher … aus den Aufzeichnungen des Malte Laurids, die Stelle, die von Baudelaire handelt und von seinem Gedichte „Das Aas“. Ich musste daran denken, dass ohne dieses Gedicht die ganze Entwicklung zum sachlichen Sagen, die wir jetzt in Cézanne zu erkennen glauben, nicht hätte anheben können; erst musste es da sein in seiner Unerbittlichkeit. Erst musste das künstlerische Anschauen sich so weit überwunden haben, auch im Schrecklichen und scheinbar nur Widerwärtigen das Seiende zu sehen, das, mit allem anderen Seienden, gilt. Sowenig eine Auswahl zugelassen ist, ebenso wenig ist eine Abwendung von irgendwelcher Existenz dem Schaffenden erlaubt: Ein einziges Ablehnen irgendwann drängt ihn aus dem Zustande der Gnade, macht ihn ganz und gar sündig. Flaubert, als er die Legende von Saint-Julien-l’hospitalier mit so viel Umsicht und Sorgfalt wiedererzählte, gab ihr diese einfache Glaubwürdigkeit mitten im Wunderbaren, weil der Künstler in ihm die Entschlüsse des Heiligen mitbeschloss und ihnen glücklich zustimmte und zurief. Dies Sich-zu-dem-Aussätzigen-Legen und Alle-eigene-Wärme-, bis zu der Herzwärme der Liebesnächte, mit-ihm-Teilen: Dies muss irgendwann im Dasein eines Künstlers gewesen sein, als Überwindung zu seiner neuen Seligkeit. Du kannst dir denken, wie es mich berührt, zu lesen, dass Cézanne eben dieses Gedicht – Baudelaires Charogne – noch in seinen letzten Jahren ganz auswendig wusste und es Wort für Wort hersagte. Gewiss fände man unter seinen früheren Arbeiten solche, in denen er sich gewaltig überwand zu der äußersten Liebesmöglichkeit. Hinter dieser Hingabe beginnt, mit Kleinem zunächst, die Heiligkeit: Das einfache Leben einer Liebe, die bestanden hat, die, ohne sich dessen je zu rühmen, zu allem tritt, unbegleitet, unauffällig, wortlos. Die eigentliche Arbeit, die Fülle der Aufgaben, alles fängt erst hinter diesem Bestehen an, und wer bis dorthin nicht hat gelangen können, der wird im Himmel wohl die Jungfrau Maria zu sehen bekommen, einzelne Heilige und kleine Propheten, den König Saul und Charles le Téméraire –: Aber von Hokusai und Lionardo, von Li-Tai-Pe und Villon, von Verhaeren, Rodin, Cézanne, – und gar vom lieben Gott wird man ihm auch dort nur erzählen können.

Und mit einem Mal [und zum ersten] begreife ich das Schicksal des Malte Laurids. Ist es nicht das, dass diese Prüfung ihn überstieg, dass er sie am Wirklichen nicht bestand, obwohl er in der Idee von ihrer Notwendigkeit überzeugt war, so sehr, dass er sie so lange instinktiv aufsuchte, bis sie sich an ihn hängte und ihn nicht mehr verließ? Das Buch von Malte Laurdis, wenn es einmal geschrieben sein wird, wird nichts als das Buch dieser Einsicht sein, erwiesen an einem, für den sie zu ungeheuer war. Vielleicht bestand er ja auch: Denn er schrieb den Tod des Kammerherrn; aber wie ein Raskolnikow blieb er, von seiner Tat aufgebraucht, zurück, nicht weiterhandelnd im Moment, wo das Handeln erst beginnen musste, so dass die neue errungene Freiheit sich gegen ihn wandte und ihn, den Wehrlosen, zerriss.

Ach, wir rechnen die Jahre und machen Abschnitte da und dort und hören auf und fangen an und zögern zwischen beidem. Aber wie sehr ist, was uns begegnet, aus einem Stück, in welcher Verwandtschaft steht eines zum andern, hat sich geboren und wächst heran und wird erzogen zu sich selbst, und wir haben im Grunde nur da zu sein, aber schlicht, aber inständig, wie die Erde da ist, den Jahreszeiten zustimmend, hell und dunkel und ganz im Raum, nicht verlangend in anderem aufzuruhen als in dem Netz von Einflüssen und Kräften, in dem die Sterne sich sicher fühlen.

Nun muss auch eines Tages die Zeit und Gelassenheit und Geduld da sein, um an den Aufzeichnungen des Malte Laurids weiterzuschreiben; ich weiß jetzt viel mehr von ihm, oder doch: Ich werde es wissen, wenn es nötig wird …

Briefe

t