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Ramon Llull

1

Der Liebende bat seinen Geliebten:
Lehre mich, dich den Menschen bekannt zu machen,
sodass sie dich lieben und loben.
Da erfüllte der Geliebte den Liebenden
mit Ergebenheit, Geduld, Güte, Leidenskraft,
mit Gedanken, Seufzern und mit Tränen.
Und in das Herz legte er ihm Kühnheit,
den Geliebten zu preisen, in den Mund Loblieder
und in den Willen Verachtung des Geschwätzes
von Leuten, deren Urteile falsch sind.

2

Eines Tages geschah es, dass der Liebende
ins Nachdenken geriet über die große Liebe zu seinem Geliebten
und über die Erprobungen und die Gefahren in ihnen,
denen er über lange Zeit ausgesetzt war,
und es beschlichen ihn Gedanken,
er habe dafür großen Lohn verdient.
Als er diese Gedanken näher betrachtete,
führten diese ihn zum Erkennen,
dass sein Geliebter ihn schon belohnt hatte,
indem er die Liebe zu ihm in ihm entflammte
und ihn versenkte in das Leid der Sehnsucht
nach seiner Gegenwart.

3

Der Liebende sprach zu seinem Geliebten:
Niemals, seit ich dich kenne, bin ich von dir weggegangen,
niemals habe ich aufgehört, dich zu lieben;
stets war ich in dir, bei dir und mit dir,
wo immer ich gewesen bin.
Da antwortete der Geliebte:
Seit du mich kennst und liebst,
habe ich dich niemals vergessen;
niemals habe ich dich getäuscht
und niemals dir Unrecht getan.

4

Hoch über der Liebe ist der Geliebte
und tief unter ihr der Liebende.
Und die Liebe, die zwischen ihnen ist,
lässt den Geliebten sich zum Liebenden neigen
und den Liebenden sich zum Geliebten aufrichten.
Und das Neigen und Aufrichten
ist das Quellen und Strömen der Liebe,
das den Liebenden in der Sehnsucht ausharren lässt
und so die Liebe zur Dienerin des Geliebten macht.

5

Sie fragten den Liebenden: Woher stammst du?
Er antwortete: Von der Liebe.
Wem gehörst du? – Der Liebe.
Wer hat dich gezeugt? – Die Liebe.
Wo bist du geboren? – In der Liebe.
Wer hat dich aufgezogen? – Die Liebe.
Wovon lebst du? – Von der Liebe.
Wie heißt du? – Liebe.
Woher kommst du? – Von der Liebe.
Wohin gehst du? – Zur Liebe.
Wo bleibst du? – In der Liebe.

6

Erfüllt von Sehnsucht nach seinem Geliebten
streunte der Liebende umher.
Da sah er zwei Freunde,
die – voller Liebe – einander begrüßten
mit Küssen, Umarmungen und unter Tränen.
Da verließen den Liebenden die Sinne,
so sehr erinnerten ihn die beiden Freunde
an seinen Geliebten.

7

Aufs Neue schürte der Geliebte im Liebenden
das Feuer der Liebe, ohne sich um die
dadurch ausgelösten Leiden zu kümmern,
damit er kraftvoller geliebt werde
und der Liebende durch noch drängendere Sehnsucht
in noch größere Freude und Verzückung gerate.

8

Sprich, Narr: Woher kommen deine Nöte? –
Er antwortete: Vom Gedenken und von der Sehnsucht,
von der Anbetung, den Erprobungen und von der Beharrlichkeit. –
Und woher hast du all diese Dinge? –
Er antwortete: Von der Liebe. –
Und woher hast du deinen Geliebten? –
Einzig von ihm selbst.

9

Nur für eine einzige Stunde
wollte der Liebende seinen Geliebten vergessen,
um Ruhe zu finden vom andauernden Gedenken.
Aber das Vergessen und Nichtwissen
gerieten ihm zu noch größerem Leid,
und so versenkte er sich in Geduld
und erhob Verstand und Gedächtnis
zur Schau des Geliebten.

10

Der Liebende war im Gefängnis der Liebe eingeschlossen.
Gedanken, Wünsche und Erinnerungen
hielten ihn fest und legten ihn in Ketten,
sodass es unmöglich war, dem Geliebten zu entkommen.
Kummer peinigte ihn,
Geduld und Hoffnung trösteten ihn.
Der Liebende wäre gestorben,
aber der Geliebte enthüllte sich ihm,
und das Leben des Liebenden erneuerte sich.

Ramon Llull, Das Buch vom Liebenden und dem Geliebten
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