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    1 
    Der Liebende bat seinen Geliebten:Lehre mich, dich den Menschen bekannt zu machen,
 sodass sie dich lieben und loben.
 Da erfüllte der Geliebte den Liebenden
 mit Ergebenheit, Geduld, Güte, Leidenskraft,
 mit Gedanken, Seufzern und mit Tränen.
 Und in das Herz legte er ihm Kühnheit,
 den Geliebten zu preisen, in den Mund Loblieder
 und in den Willen Verachtung des Geschwätzes
 von Leuten, deren Urteile falsch sind.
 
    2 
    Eines Tages geschah es, dass der Liebendeins Nachdenken geriet über die große Liebe zu seinem Geliebten
 und über die Erprobungen und die Gefahren in ihnen,
 denen er über lange Zeit ausgesetzt war,
 und es beschlichen ihn Gedanken,
 er habe dafür großen Lohn verdient.
 Als er diese Gedanken näher betrachtete,
 führten diese ihn zum Erkennen,
 dass sein Geliebter ihn schon belohnt hatte,
 indem er die Liebe zu ihm in ihm entflammte
 und ihn versenkte in das Leid der Sehnsucht
 nach seiner Gegenwart.
 
    3 
    Der Liebende sprach zu seinem Geliebten:Niemals, seit ich dich kenne, bin ich von dir weggegangen,
 niemals habe ich aufgehört, dich zu lieben;
 stets war ich in dir, bei dir und mit dir,
 wo immer ich gewesen bin.
 Da antwortete der Geliebte:
 Seit du mich kennst und liebst,
 habe ich dich niemals vergessen;
 niemals habe ich dich getäuscht
 und niemals dir Unrecht getan.
 
    4 
    Hoch über der Liebe ist der Geliebteund tief unter ihr der Liebende.
 Und
    die Liebe, die zwischen ihnen ist,
 lässt
    den Geliebten sich zum Liebenden
    neigen
 und den Liebenden sich zum
    Geliebten aufrichten.
 Und das Neigen
    und Aufrichten
 ist das Quellen und
    Strömen der Liebe,
 das den Liebenden
    in der Sehnsucht ausharren lässt
 und so
    die Liebe zur Dienerin des Geliebten macht.
 
    5 
    Sie fragten den Liebenden: Woher stammst du?Er antwortete: Von der Liebe.
 Wem gehörst du? – Der Liebe.
 Wer hat dich gezeugt? – Die Liebe.
 Wo bist du geboren? – In der Liebe.
 Wer hat dich aufgezogen? – Die Liebe.
 Wovon lebst du? – Von der Liebe.
 Wie heißt du? – Liebe.
 Woher kommst du? – Von der Liebe.
 Wohin gehst du? – Zur Liebe.
 Wo bleibst du? – In der Liebe.
 
    6 
    Erfüllt von Sehnsucht
    nach seinem Geliebtenstreunte der Liebende umher.
 Da sah er zwei Freunde,
 die – voller Liebe –
    einander begrüßten
 mit Küssen, Umarmungen
    und unter Tränen.
 Da verließen den Liebenden
    die Sinne,
 so sehr erinnerten ihn
    die beiden Freunde
 an seinen Geliebten.
 
    7 
    Aufs Neue schürte der Geliebte im Liebendendas Feuer der Liebe, ohne sich um die
 dadurch ausgelösten Leiden zu kümmern,
 damit er kraftvoller geliebt werde
 und der
    Liebende durch noch drängendere Sehnsucht
 in noch größere Freude und Verzückung gerate.
 
    8 
    Sprich, Narr: Woher kommen deine Nöte? –Er antwortete: Vom Gedenken und
    von der Sehnsucht,
 von der Anbetung,
    den Erprobungen und von der Beharrlichkeit. –
 Und woher hast du all diese Dinge? –
 Er antwortete: Von der Liebe. –
 Und woher hast du deinen Geliebten? –
 Einzig von ihm selbst.
 
    9 
    Nur für eine einzige Stundewollte der Liebende
    seinen Geliebten vergessen,
 um Ruhe zu finden
    vom andauernden Gedenken.
 Aber das Vergessen und Nichtwissen
 gerieten ihm zu noch größerem Leid,
 und so versenkte er sich in Geduld
 und erhob Verstand und Gedächtnis
 zur Schau des Geliebten.
 
    10 
    Der Liebende war im Gefängnis der Liebe 
    eingeschlossen.Gedanken, Wünsche und Erinnerungen
 hielten ihn fest und legten ihn in Ketten,
 sodass es unmöglich war,
    dem Geliebten zu entkommen.
 Kummer peinigte ihn,
 Geduld und Hoffnung trösteten ihn.
 Der Liebende wäre gestorben,
 aber der Geliebte enthüllte sich ihm,
 und das Leben des Liebenden erneuerte sich.
 
    Ramon Llull, Das Buch vom 
    Liebenden und dem Geliebten1: 136, 2: 174, 3: 53, 4: 258, 5: 97, 6: 59, 7: 31, 8: 242, 9: 97, 10: 168
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