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Dietrich Bonhoeffer

1

Gott schämt sich der Niedrigkeit der Menschen nicht, er geht mitten hinein, er wählt einen Menschen zu seinem Werkzeug und tut seine Wunder dort, wo man sie am wenigsten erwartet. Gott ist nahe der Niedrigkeit, er liebt das Verlorene, das Unbeachtete, Unansehnliche, das Ausgestoßene, das Schwache und Zerbrochene. Wo die Menschen sagen „verloren“ – da sagt er „gefunden“; wo die Menschen sagen „gerichtet“ – da sagt er „gerettet“; wo die Menschen sagen „nein“ – da sagt er „ja“. Wo die Menschen ihre Blicke gleichgültig oder hochmütig wegwenden, da ist sein Blick von einer Glut der Liebe wie nirgend sonst.

2

Wer einmal in seinem Leben das Erbarmen Gottes erfahren hat, der will fortan nur noch dienen. Der stolze Thron des Richters lockt ihn nicht mehr, sondern er will unten sein bei den Elenden und Geringen, weil dort unten Gott ihn gefunden hat.

3

Wer lernen will zu dienen, der muss zuerst lernen, gering von sich selbst zu denken.

Weil er sich nicht mehr selbst für klug halten kann, darum wird er auch von seinen eigenen Plänen und Absichten gering denken, er wird wissen, dass es gut ist, dass der eigene Wille gebrochen wird in der Begegnung mit dem Nächsten. Er wird bereit sein, den Willen des Nächsten für wichtiger und dringlicher zu halten als den eigenen. Was schadet es, wenn der eigene Plan durchkreuzt wird? Ist es nicht besser, dem Nächsten zu dienen, als den eigenen Willen durchzusetzen?

4

Wo die Zucht der Zunge geübt wird, dort wird jeder Einzelne eine unvergleichliche Entdeckung machen. Er wird aufhören können, den andern unaufhörlich zu beobachten, ihn zu beurteilen, ihn zu verurteilen, ihm seinen bestimmten beherrschbaren Platz zuzuweisen und ihm so Gewalt zu tun. Er kann ihn ganz frei stehen lassen, so wie Gott ihn ihm gegenübergestellt hat. Der Blick weitet sich, und er erkennt zu seinem Erstaunen zum ersten Mal den Reichtum der Schöpferherrlichkeit Gottes. Gott hat den Andern nicht gemacht, wie ich ihn gemacht hätte. In seiner geschöpflichen Freiheit wird mir nun der Andere Grund zur Freude, während er mir vorher nur Mühe und Not war.

Gott will nicht, dass ich den Andern nach dem Bilde forme, das mir gut erscheint, also nach meinem eigenen Bilde, sondern in seiner Freiheit von mir hat Gott den Andern zu seinem Ebenbilde gemacht.

Ich kann es niemals im Voraus wissen, wie Gottes Ebenbild im Andern aussehen soll, immer wieder hat es eine ganz neue, allein in Gottes freier Schöpfung begründete Gestalt.

5

Wir meinen, wenn wir gegen jemand keine bösen Gedanken hegen, dann sei das eben dasselbe, als hätten wir ihm vergeben, – und wir übersehen dabei ganz, dass wir keine guten Gedanken über ihn haben. Vergeben, das könnte doch heißen, lauter gute Gedanken über ihn haben, ihn tragen, wo wir nur können. Und das gerade umgehen wir: Wir tragen den andern Menschen nicht, sondern wir gehen neben ihm her und gewöhnen uns an sein Schweigen, ja nehmen ihn gar nicht ernst – aber aufs Tragen gerade kommt es an, den andern in allen Stücken tragen, in allen seinen schwierigen und unangenehmen Seiten, und sein Unrecht und seine Sünde gegen mich – schweigen, tragen und lieben ohne aufhören –, das käme dem Vergeben nahe.

Vergebung ist ohne Anfang und Ende, sie geschieht täglich unaufhörlich, denn sie kommt von Gott. Das ist Befreiung aus allem Krampfhaften im Zusammensein mit dem Nächsten, denn hier werden wir befreit von uns selbst, hier dürfen wir alles eigene Recht aufgeben und dem andern allein helfen und dienen.

6

Das Freiheit ist nicht etwas, das der Mensch für sich hat, sondern das er für den anderen hat. Kein Mensch ist frei „an sich“, das heißt gleichsam im luftleeren Raum, so wie er musikalisch, klug oder blind an sich ist. Freiheit ist keine Qualität des Menschen, keine noch so tief irgendwie in ihm aufzudeckende Fähigkeit, Anlage, Wesensart. Wer den Menschen auf Freiheit hin durchforscht, findet nichts von ihr. Warum? Weil Freiheit nicht eine Qualität ist, die aufgedeckt werden könnte, kein Besitz, kein Vorhandenes, Gegenständliches, auch keine Form für Vorhandenes, sondern weil Freiheit eine Beziehung ist und sonst nichts. Und zwar eine Beziehung zwischen Zweien. Freisein heißt „frei-sein-für-den-anderen“, weil der andere mich an sich gebunden hat. Nur in der Beziehung auf den anderen bin ich frei.

7

Das Geheimnis bleibt Geheimnis. Es entzieht sich unserem Zugriff. Geheimnis heißt aber nicht einfach, etwas nicht wissen. Nicht der fernste Stern ist das größte Geheimnis, sondern im Gegenteil, je näher uns etwas kommt, je besser wir etwas wissen, desto geheimnisvoller wird es uns. Nicht der fernste Mensch ist uns das größte Geheimnis, sondern gerade der Nächste. Und sein Geheimnis wird uns dadurch nicht geringer, dass wir immer mehr von ihm wissen; sondern in seiner Nähe wird es uns immer geheimnisvoller. Es ist die letzte Tiefe alles Geheimnisvollen, wenn zwei Menschen einander so nahe kommen, dass sie einander lieben. Nirgends in der Welt spürt der Mensch die Macht des Geheimnisses und seine Herrlichkeit so stark wie hier. Wo zwei Menschen alles voneinander wissen, wird das Geheimnis ihrer Liebe zwischen ihnen unendlich groß. Und erst in dieser Liebe verstehen sie einander, wissen sie ganz voneinander, erkennen sie einander ganz, und doch, je mehr sie einander lieben und in der Liebe voneinander wissen, je tiefer erkennen sie das Geheimnis ihrer Liebe. Also das Wissen hebt das Geheimnis nicht auf, sondern vertieft es. Dass der andere mir so nahe ist, das ist das größte Geheimnis.

8

Dass ein Mensch in den Armen seiner Frau sich nach dem Jenseits sehnen soll, das ist milde gesagt eine Geschmacklosigkeit und jedenfalls nicht Gottes Wille. Man soll Gott in dem finden und lieben, was er uns gerade gibt. Wenn es Gott gefällt, uns ein überwältigendes irdisches Glück genießen zu lassen, dann soll man nicht frömmer sein als Gott und dieses irdische Glück durch übermütige Gedanken und Herausforderungen und durch eine wild gewordene religiöse Fantasie, die an dem, was Gott gibt, nie genug haben kann, dieses Glück wurmstichig werden lassen. Gott wird es dem, der ihn in seinem irdischen Glück findet und ihm dankt, schon nicht an Stunden fehlen lassen, in denen er daran erinnert wird, dass alles Irdische nur etwas Vorläufiges ist und dass es gut ist, sein Herz an die Ewigkeit zu gewöhnen, und schließlich werden auch die Stunden nicht ausbleiben, in denen wir aufrichtig sagen können: Ich wollt, dass ich daheime wär … Aber dies alles hat seine Zeit, und die Hauptsache ist, dass man mit Gott Schritt hält und ihm nicht immer schon einige Schritte vorauseilt, allerdings auch keinen Schritt hinter ihm zurückbleibt. Es ist Übermut, alles auf einmal haben zu wollen. Alles hat „seine Stunde“: „weinen und lachen, … herzen und fern sein von herzen, … zerreißen und zunähen …, und Gott sucht wieder auf, was vergangen ist“. Dies Letzte heißt doch wohl, dass nichts Vergangenes verloren ist, dass Gott mit uns unsere Vergangenheit, die zu uns gehört, wieder aufsucht. Wenn also die Sehnsucht nach einem Vergangenen uns überfällt – und das geschieht zu völlig unberechenbaren Zeiten –, dann können wir wissen, dass das nur eine der vielen „Stunden“ ist, die Gott für uns noch bereit hält, und dann sollen wir wohl nicht auf eigene Faust, sondern mit Gott das Vergangene wieder aufsuchen.

9

Das Tiefste erschließt sich erst, wenn wir bedenken, dass nicht nur die Welt ihre Zeit und ihre Stunden hat, sondern dass unser eigenes Leben seine Zeit und seine Stunde Gottes hat, und dass hinter den Zeiten unseres Lebens Gottes Spuren sichtbar werden, dass unter unseren Pfaden die tiefen Schächte der Ewigkeit sind, und jeder Schritt bringt ein leises Echo aus der Ewigkeit zurück.

10

Warten ist eine Kunst, die unsere ungeduldige Zeit vergessen hat. Sie will die reife Frucht brechen, wenn sie kaum den Sprössling setzte, aber die gierigen Augen werden nur allzu oft betrogen, indem die scheinbar so köstliche Frucht von innen noch grün ist, und respektlose Hände werfen undankbar beiseite, was ihnen so Enttäuschung brachte. Wer nicht die herbe Seligkeit des Wartens, das heißt des Entbehrens in Hoffnung, kennt, der wird nie den ganzen Segen der Erfüllung erfahren.

Wer nicht um die Freundschaft, um die Liebe eines anderen werben will, wartend seine Seele aufschließt der Seele des anderen, bis sie kommt, bis sie Einzug hält, dem bleibt der tiefste Segen eines Lebens zweier Seelen ineinander für ewig verborgen.

Auf die größten, tiefsten, zartesten Dinge in der Welt müssen wir warten, da geht nichts im Sturm, sondern nach den göttlichen Gesetzen des Keimes und Wachsens und Werdens.

11

Gehört es nicht zum Wesen eines Mannes im Unterschied zum Unfertigen, dass das Schwergewicht seines Lebens immer dort ist, wo er sich gerade befindet, und dass die Sehnsucht nach der Erfüllung seiner Wünsche ihn doch nicht davon abzubringen vermag, dort, wo er nun einmal steht, ganz das zu sein, was er ist? Der Heranwachsende ist nie ganz dort, wo er ist: Das gehört geradezu zu seinem Wesen, sonst wäre er vermutlich ein Stumpfbold; der Mann ist immer ein Ganzer und entzieht der Gegenwart nichts. Seine Sehnsucht, die den anderen Menschen verborgen bleibt, ist immer schon eine irgendwie überwundene Sehnsucht; und je mehr er zu überwinden hat, um immer ganz gegenwärtig zu sein, desto geheimnisvoller und vertrauenswürdiger wird er im Grunde seines Wesens für die Mitmenschen, insbesondere für Jüngere, die noch auf dem Wege sind, den er schon durchschritten hat.

Wünsche, an die wir uns zu sehr klammern, rauben uns leicht etwas von dem, was wir sein sollen und können. Wünsche, die wir um der gegenwärtigen Aufgabe willen immer wieder überwinden, machen uns – umgekehrt – reicher. Wunschlosigkeit ist Armut. In meiner jetzigen Umgebung finde ich fast nur Menschen, die sich an ihre Wünsche klammern und dadurch für andere Menschen nichts sind; sie hören nicht mehr und sind unfähig zur Nächstenliebe. Ich denke, auch hier muss man leben, als gäbe es keine Wünsche und keine Zukunft, und ganz der sein, der man ist. Es ist merkwürdig, wie sich andere Menschen dann an uns halten, ausrichten und sich etwas sagen lassen. Es gibt erfülltes Leben trotz vieler unerfüllter Wünsche; das ist es wohl, was ich eigentlich sagen wollte.

12

Es gibt nichts, was uns die Abwesenheit eines uns lieben Menschen ersetzen kann, und man soll das auch gar nicht versuchen; man muss es einfach aushalten und durchhalten; das klingt zunächst sehr hart, aber es ist doch zugleich ein großer Trost; denn indem die Lücke wirklich unausgefüllt bleibt, bleibt man durch sie miteinander verbunden. Es ist verkehrt, wenn man sagt, Gott füllt die Lücke aus; er füllt sie gar nicht aus, sondern er hält sie vielmehr gerade unausgefüllt und hilft uns dadurch, unsere alte Gemeinschaft miteinander – wenn auch unter Schmerzen – zu bewahren. Ferner: Je schöner und voller die Erinnerungen, desto schwerer die Trennung. Aber die Dankbarkeit verwandelt die Qual der Erinnerung in eine stille Freude. Man trägt das vergangene Schöne nicht wie einen Stachel, sondern wie ein kostbares Geschenk in sich. Man muss sich hüten, in den Erinnerungen zu wühlen, sich ihnen auszuliefern, wie man auch ein kostbares Geschenk nicht immerfort betrachtet, sondern nur zu besonderen Stunden und es sonst nur wie einen verborgenen Schatz, dessen man sich gewiss ist, besitzt; dann geht eine dauernde Freude und Kraft von dem Vergangenen aus. Ferner: Trennungszeiten sind für das Zusammenleben nicht verloren und unfruchtbar, sie brauchen es jedenfalls nicht zu sein, sondern es kann sich in ihnen – allen Problemen zum Trotz – eine merkwürdige starke Gemeinschaft bilden. Weiter: Ich habe es hier besonders erfahren, dass die Tatsachen immer bewältigt werden können und dass nur die Sorge und die Angst sie vorher ins Maßlose vergrößern.

13

Wie soll ich Ihnen sagen, was mich in diesen letzten Tagen bewegt hat und wie Ihr Schmerz mir selbst weh tut und wie ich Gott darum bitte, Ihnen jetzt zum rechten Tragen und Überwinden zu helfen? Ich will jetzt nichts darüber sagen, was Gerhards Tod für mich persönlich bedeutet. Was Gerhard mir gewesen ist, habe ich mit sehr schwachen Worten versucht, im Brief an Ihre Schwiegereltern zu sagen. Wenn ich an Sie denke, so verschwindet alles persönliche Leid hinter dem Übermaß, das Ihnen aufgebürdet worden ist. Nun sind die allerersten Tage des Schreckens und der Fassungslosigkeit vorüber. Wir begreifen, dass es wirklich so ist, dass wir Gerhard nicht wieder sehen werden, und die Frage taucht in uns auf, wie wir uns nun zu diesem Verlust stellen sollen, wie wir ihn verwinden sollen. Aber schon indem wir so fragen, spüren wir den inneren Widerstand. Wir wollen diesen Schmerz gar nicht verwinden; wenn wir Gerhard schon nicht lebend mehr haben dürfen, so wollen wir ihn wenigstens in unserem Schmerz behalten. Und doch dürfen wir so nicht denken. Es ist ein Aufruhr gegen Gottes Tun. Wir müssen Gerhard hergeben, wir müssen den großen Schmerz überwinden, so schwer es uns wird. Wir könnten auch anders nicht weiterleben, ohne mit Gott, mit den Menschen und schließlich mit uns selbst zu zerfallen. Dann aber wäre das Geschenk, das Gott uns eine kleine Zeit lang mit Gerhards Leben gemacht hat, uns schließlich zum Unsegen statt zum Segen geworden. Auch wenn Ihnen jetzt das Leben gleichgültig und ganz leer geworden ist, wenn Ihnen Ihr Leben zerstört erscheinen will – und wer wollte das menschlich nicht begreifen? –, so ist auch Ihr Leben von Gott und hat sein Ziel allein in Gott, und so will und kann Gott allein Ihrem Leben wieder Sinn und Reichtum geben. Das aber kann ja nur geschehen, wenn Sie sich jetzt wirklich und von ganzem Herzen Gott und seinem unbegreiflichen Willen überlassen, wenn nun aus dem furchtbaren Verlust ein williger und demütiger Verzicht wird, wenn aus dem Aufbegehren des ganzen Wesens eine freie Selbstverleugnung wird, wenn Sie aus Liebe zu Gott sich selbst vergessen, ganz selbstlos werden und so für Gott und für Ihre Mitmenschen frei und offen werden.

14

Wir sind vielleicht schon einmal am Grab von Menschen gestanden, über die es unsererseits nichts, schlechterdings gar nichts zu sagen gab; wo uns nur das eine furchtbare Gefühl niederdrückte: Welch namenlose Armut, welche Sinnlosigkeit. Er hatte niemand, den er liebe; er hatte niemand, der ihn liebte. Stumpf, ohne Tränen, ohne Schmerz sehen wir zu, wie dieses Leben zur letzten Ruhe getragen wird, die es sich selbst vielleicht ersehnte. Er war ein Geizhals, er war ein Eifersüchtiger, er war ein Tyrann, er kannte und suchte und wollte nur sich selbst. Er hasste die anderen. Jeder war ihm im Wege zu seinem Glück, das er doch nie fand. Er blieb allein, einsam.

Und wir kennen die Gräber, an denen wir einer Mutter, einem treuen Vater, einem glücklichen Kind nachblickten, und darum herum stehen alle die, die Liebe von diesem Menschen erfahren haben, und unser Mund tut sich auf und will nicht schweigen, die Liebe zu preisen, die in diesem Leben sich verherrlichte.

Nichts, wirklich gar nichts ist lebenswert ohne Liebe; aller Sinn des Lebens ist erfüllt, wo Liebe ist. Dieser Liebe gegenüber wird dann alles andere ganz gleichgültig. Was heißt Glück und Unglück, was Armut und Reichtum, was Ehre und Schande, was Heimat und Fremde, was heißt Leben und Tod, wo Menschen in der Liebe leben? Sie wissen es nicht, sie unterscheiden es nicht; sie wissen nur, dass ihnen Glück wie Unglück, Armut wie Reichtum, Ehre wie Schande, Heimat wie Fremde, Leben wie Sterben nur dazu dienen, umso stärker, umso reiner, umso völliger zu lieben. Sie ist das Eine jenseits aller Unterschiede, vor allen Unterschieden, in allen Unterschieden. Die Liebe ist stark wie der Tod.

15

Wenn wir uns in unruhigen Zeiten einmal fragen, was eigentlich von all der Aufregung, von all dem Hin und Her der Gedanken und Überlegungen, von all den Sorgen und Befürchtungen, von allen Wünschen und Hoffnungen, die wir uns machen, wirklich bis zuletzt übrig bleibt – dann kann die Antwort nur lauten: Ein einziges, die Liebe. Alles andere hört auf, vergeht; alles, was wir nicht aus Liebe gedacht und ersehnt haben, alle Gedanken, alle Erkenntnis, alles Reden ohne Liebe hört auf. Nur die Liebe höret nimmer auf.

Warum muss das so sein? Weil allein in der Liebe der Mensch sich selbst aufgibt, seinen Willen drangibt für den anderen; weil also allein die Liebe nicht aus meinem eigenen Selbst kommt, sondern aus einem anderen Selbst, aus dem Selbst Gottes. Weil also allein in der Liebe Gott selbst durch uns handelt – während in allem andern wir selbst handeln; es sind unsere Gedanken, unser Reden, unser Erkenntnisse, aber es ist Gottes Liebe. Und was von uns ist, muss aufhören, alles – aber was von Gott ist, das bleibt. Weil Liebe Gott selbst und sein Wille ist, darum bleibt sie bei ihrem Weg, darum geht sie ihn mit schlafwandlerischer Sicherheit. Sie geht ihn mitten hindurch durch alle Dunkelheiten und Rätsel dieser Welt. Sie geht in die Abgründe menschlichen Elends und auf die Höhe menschlichen Glanzes. Sie geht zu den Feinden wie zu den Freunden. Sie verlässt keinen, auch wenn sie von jedem verlassen wird. Sie geht dem Geliebten nach in Schuld und Schande und Verlorenheit. Sie kennt das alles nicht, sie ist einfach und hört nimmer auf. Und sie heiligt jeden Ort, den sie betritt. Sie findet überall Stückwerk und zeugt überall von der Vollkommenheit.

16

Was ist die Liebe? Alle Definitionen scheiden hier aus, die das Wesen der Liebe als menschliches Verhalten, als Gesinnung, als Hingabe, als Opfer, als Gemeinschaftswille, als Gefühl, als Leidenschaft, als Dienst, als Tat verstehen wollen. Dies alles, ohne Ausnahme, kann es geben ohne „Liebe“. Alles was wir Liebe zu nennen gewöhnt sind, was in den Abgründen der Seele und in der sichtbaren Tat lebt, ja selbst was aus den frommen Herzen an brüderlichem Dienst am Nächsten hervorgeht – kann ohne „Liebe“ sein, und das nicht darum, weil in jedem menschlichen Verhalten immer noch ein „Rest“ von Selbstsucht vorhanden ist, der die Liebe gänzlich verdunkelt, sondern weil Liebe überhaupt etwas ganz anderes ist als hier darunter verstanden ist.

17

Liebe ist nicht die unmittelbare Personbeziehung, das Eingehen auf das Persönliche, auf das Individuelle, im Gegensatz zum Sachlichen, der unpersönlichen Ordnung. Abgesehen davon, dass hier „Persönliches“ und „Sachliches“ in abstrakter Weise auseinander gerissen sind, wird hier die Liebe zu einem – noch dazu nur partiellen! – Verhalten des Menschen. Die „Liebe“ ist dann ein neben das niedere Ethos des rein Sach- und Ordnungsgemäßen als Vervollkommnung und Ergänzung tretendes höheres Ethos des Persönlichen. Dem entspricht es, wenn man zum Beispiel Liebe und Wahrheit miteinander so in Konflikt treten lässt, dass man die Liebe als das Persönliche der Wahrheit als dem Unpersönlichen überordnet. Die Liebe kennt den Konflikt, durch den man sie definieren möchte, gerade nicht, es gehört vielmehr zu ihrem Wesen, dass sie jenseits jeder Entzweiung ist.

18

Selbst das Böse und die Sünde des anderen kann die Liebe nicht erbittern, weil sie ja für sich selbst gar kein Gutes erwartet. Sie kennt sich selbst ja gar nicht, sie kennt nur den anderen. Sie trauert über dessen Böses und ist betrübt und liebt ihn darum umso mehr – aber sie lässt sich nicht erbittern. Wo uns versagte Gegenliebe vielleicht das ganze Leben verbittert, da sagt die Liebe zu uns: Du hast noch gar nicht recht geliebt, wenn du durch den Hass und die Unachtsamkeit des anderen deine Liebe zerbrechen lässt, sonst wärst du frei von jeder Bitterkeit.

„Sie rechnet das Böse nicht zu.“ Wo die Gerechtigkeit uns zu gebieten scheint, Gutes und Böses zu buchen und festzulegen, da ist die Liebe blind, wissend blind; sie sieht das Böse, aber sie rechnet es nicht zu; sie vergibt es – und nur die Liebe kann ja vergeben. Sie vergisst es, sie trägt es nicht nach. Wenn wir doch nur dies eine begreifen möchten: Die Liebe trägt nicht nach. Sie tritt dem anderen jeden Tag neu und mit neuer Liebe gegenüber und vergisst, was dahinten liegt – sie macht sich damit zum Spott der Menschen, zum Narren – und sie wird auch dadurch nicht irr –, sondern sie fährt fort zu lieben. Ist sie denn gleichgültig gegen Recht und Unrecht? Nein, sie freut sich nicht der Ungerechtigkeit, sie freut sich aber der Wahrheit. Sie will die Dinge sehen, wie sie sind. Sie will lieber Hass und Unrecht und Lüge klar sehen als allerlei Masken der Liebenswürdigkeit, die doch wieder den Hass nur noch verbirgt und noch hässlicher macht. Die Liebe will klare Verhältnisse schaffen und sehen, sie freut sich der Wahrheit – denn nur in der Wahrheit kann sie aufs Neue lieben.

19

Nun kommen die großen Zusammenfassungen, die wir fast nicht mehr auszulegen wagen, so ungeheuer sind sie an Tiefe und Ernst und Weite. „Sie verträgt alles, sie glaubt alles, sie hofft alles, sie duldet alles.“ Auf das alles kommt es hier an; es ist kompromisslos gemeint – alles heißt hier wirklich alles. Auch wir sagen vielleicht einmal in einem großen Augenblick: Alles tue ich für dich, alles lasse ich für dich, alles trage ich mit dir – wobei wir doch immer die eine große stillschweigende Voraussetzung machen: Wenn du es ebenso mit mir hältst. Diese Voraussetzung kennt die Liebe nicht. Ihr Alles hat keine Bedingung – es ist bedingungslos alles.

„Sie glaubt alles“ – und wird darüber zum Narren und behält doch recht. Sie wird darüber betrogen und belogen – und behält dennoch das Feld. Aber ist es nicht ein Unsinn, alles zu glauben? Fordert das die anderen nicht geradezu heraus, mich für den Dummen zu halten? Ja, es ist Unsinn, wenn ich irgendetwas für mich selbst mit meiner Liebe bezwecke. Aber wenn ich wirklich nichts anderes will, als ohne Bedingung, ohne Grenzen, ohne Vorurteil zu lieben, dann ist es kein Unsinn, sondern dann ist es der Weg, Menschen zu überwinden, der Weg, an dem Menschen stutzig werden und umkehren. Die Liebe glaubet alles, weil sie ja nicht anders kann als glauben, dass letzten Endes alle berufen sind, von der Liebe überwunden zu werden.

20

Die Liebe eifert nicht – Selbstliebe aber eifert. Sie will etwas für sich selbst, sie will den anderen gewinnen und besitzen für sich selbst, sie will etwas von dem anderen – aber die Liebe will das nicht; sie will nichts von dem anderen, sie will alles für den anderen, sie will den anderen nicht haben und besitzen, sie will ihn erst recht nicht eifersüchtig allein besitzen; sie will nur den anderen lieben, weil sie nicht anders kann; sie will den anderen nur um seinetwillen. Die Eifersucht, die die Liebe steigern und schützen möchte, zerstört die Liebe, verunreinigt sie, entheiligt sie.

Weil aber die Liebe nicht eifert, darum macht sie auch nichts aus sich; sie will ganz unscheinbar sein, sie will am liebsten gar nicht gesehen werden; sie macht nie auf sich aufmerksam, sie spielt sich nicht auf, sie will nicht etwas Besonderes sein. „Sie treibt nicht Mutwillen, sie blähet sich nicht, sie stellt sich nicht ungebärdig.“ Wir tun allerlei, um auf das Besondere unserer Liebe hinzuweisen; wir spielen uns in eine Rolle hinein als Heilige, als Unschuldige, als Märtyrer mit unserer Liebe. Wir ängstigen den anderen damit, dass wir ihm plötzlich unsere Liebe auch wieder entziehen könnte; d. h. wir spielen mit der Liebe, wir treiben Mutwillen mit ihr. Wir sind sogar fähig und bereit, die Ordnungen des Anstandes, der Zurückhaltung und der Bescheidenheit zu durchbrechen, um auf unsere Liebe aufmerksam zu machen. Die Liebe aber stellt sich nicht ungebärdig; sie tut das alles nicht, was wir tun, wenn wir zu lieben meinen; sie tut es nicht, weil sie nicht das Ihre sucht. Sie will ja nichts für sich, wirklich nichts, sie vergisst sich, sie sieht sich selbst ebenso wenig wie das Auge sich selbst sieht. „Das Ihre“, das die Liebe sehen könnte, was unsere Liebe doch jedenfalls immer sucht, ist doch mindestens Gegenliebe, Dankbarkeit. Aber auch das, was doch das Ihre wäre, was sie verdiente, sucht sie nicht. Und allein, wenn sie es nicht sucht, auch nicht verstohlen und heimlich, wird sie es vielleicht finden. Sie ist froh und dankbar, wenn der andere das Seine findet. Und sie sieht ohne Neid zu, wenn die Liebe des anderen sich auf einen Anderen richtet, wie eine gute Mutter sich freut, wenn Ihr Kind den findet, den es von ganzem Herzen lieben kann, auch wenn sie selbst dabei zurückstehen muss.

21

„Die Liebe ist langmütig und freundlich.“ Das heißt doch, die Liebe kann warten, lange warten, bis zum Letzten warten. Sie wird nie ungeduldig, sie will nichts übereilen und erzwingen. Sie rechnet mit langen Zeiträumen, sie rechnet allein damit, dass der andere endlich, endlich doch überwunden wird. Warten, Geduld haben, weiter lieben und freundlich sein, auch wo es gänzlich fehlzuschlagen scheint – das allein überwindet Menschen, das allein löst die Fesseln, die jeden Menschen ketten, die Fesseln der Menschenfurcht und der Angst vor einem Umbruch, vor einem neuen Leben. Langmut – das passt so gar nicht in unser gehetztes Leben; Freundlichkeit – das scheint oft so gänzlich unangebracht zu sein; aber die Liebe ist langmütig und freundlich; sie wartet, wie man auf einen, der sich verirrt und verlaufen hat, wartet und sich freut, wenn er überhaupt noch kommt.

22

Über die erste Liebe hinaus gibt es schlechthin keine andere Liebe mehr. Die erste Liebe ist die einzige Liebe, die es überhaupt gibt – denn es ist die Liebe aus Gott und zu Gott.

[1] So will ich diese Tage mich euch leben. Dietrich Bonhoeffer Jahreslesebuch, Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2005
[2] Bonhoeffer Brevier, Chr. Kaiser Verlag, München 1965
DBW = Dietrich Bonhoeffer Werkausgabe

1 [1] 9. Dezember, [2] 19. Dezember: Predigt über Lukas 1,46–55, London, 17. Dezember 1933, DBW 13 [London 1933–1935], S. 339
2 [2] 17. September: DBW 5 [Gemeinsames Leben. Das Gebetbuch der Bibel], S. 80
3 [2] 18. September: DBW 5 [Gemeinsames Leben. Das Gebetbuch der Bibel], S. 80
4 [2] 16. September: DBW 5 [Gemeinsames Leben. Das Gebetbuch der Bibel], S. 79
5 [1] 25. Juli: Predigt über Matthäus 18,21–35, 17. November 1935, DBW 14 [Illegale Theologenausbildung: Finkenwalde 1935–1937], S. 907
6 [1] 9. Oktober: DBW 3 [Schöpfung und Fall], S. 58
7 [1] 8. Dezember: Predigt zu 1 Kor 2,7–10, London, 27. Mai 1935, DBW 13 [London 1933–1935], S. 360
8 [1] 3. Jänner: DBW 8 [Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft], S. 244
9 [1] 10. Juni: DBW 10 [Barcelona, Berlin, Amerika, 1928–1931], S. 515
10 [1] 5. Dezember: DBW 10 [Barcelona, Berlin, Amerika, 1928–1931], S. 529
11 [2] 22. August: DBW 8 [Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft], S. 358
12 [2] 23. August: DBW 8 [Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft], S. 255
13 [2] 29. November: DBW Ergänzungsband [ So ist es gewesen. Briefe im Kirchenkampf 1933–1942], S. 439
14 [2] 7. Juli: Predigt über 1 Kor 13,1–3, London, 14. Oktober 1934
15 [2] 19. Oktober: Predigt über 1 Kor 13,8–12, London, 28. Oktober 1934, DBW 13 [London 1933–1935], S. 393
16 [1] 18. Juli: DBW 6 [Ethik], S. 335
17 [1] 19. Juli: DBW 6 [Ethik], S. 336
18, 19 [2] 31. August, 1. September: Predigt über 1 Kor 13,4–7, London, 21. Oktober 1934, DBW 13 [London 1933–1935], S. 390
20 [2] 30. August: Predigt über 1 Kor 13,4–7, London, 21. Oktober 1934
21 [2] 29. August: Predigt über 1 Kor 13,4–7, London, 21. Oktober 1934, DBW 13 [London 1933–1935], S. 388
22 [1] 30. Oktober: DBW 12 [Berlin 1932–1933], S. 426