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Meister Eckhart

Wie die Neigung zur Sünde dem Menschen allezeit nützt

Wisse: Versuchung zum Bösen bleibt beim tüchtigen Menschen niemals ohne großen Segen und Förderung. So höre!

Es gibt zwei Arten Menschen. Der eine ist so angelegt, dass ihn keine Schwachheit befällt oder doch selten. Der andere ist ihr zugänglich: Von der sinnfälligen Gegenwart der Dinge wird sein äußerer Mensch leicht entflammt, sei’s zu Zorn oder eitlem Prangen oder auch sinnlich, je wie der Gegenstand ist; aber in seinem höchsten Vermögen steht er unerschüttert aufrecht und ist nicht gesonnen, der Schwachheit nachzugeben, sondern kämpft gegen sie mit aller Macht. Wo sie doch vielleicht in seiner Natur liegt, wie denn mancher von Haus aus jähzornig oder hochfärtig ist oder sonst dergleichen; aber zur sündigen Tat lässt er’s nicht kommen. Dieser soll ungleich mehr gepriesen sein, ist sein Gewinn doch weit größer, seine Tugend weit edler, als des ersten. Nur aus der Anfechtung kommt Vollkommenheit. Wie Sankt Paulus spricht: „Die Tugend vollendet sich in der Schwachheit.“

Sündiger Hang ist noch nicht Sünde – aber der Wille, zu sündigen, der ist bereits Sünde. Wahrhaftig, der Rechtberatene, hätt er Gewalt, zu wünschen, der wird nicht wünschen, dass der sündige Hang ihm schwinde. Denn ohne ihn stünde der Mensch unsicher da in der Welt trotz allen seinen Werken, wär nicht auf seiner Hut und ermangelte dazu der Ehren des Streites wie des Siegerlohns. Erst der Anstoß und die Erschütterung durch die Untugend bringen die Tugend als den Lohn für heißes Mühen: Solch Hang macht einen fleißiger, sich allerwegen in der Tugend zu üben, er treibt uns zur Tugend mit Gewalt, als eine strenge Geißel, die zur Hut und Selbstzucht anhält. Je schwächer darum sich einer findet, desto eher darf er sich der Stärke und des Sieges versehen. Denn Tugend sowohl wie Laster beruhen auf dem Willen.

Reden der Unterweisung