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Maulana Dschelaleddin Rumi, Schamsuddin Tabrizi

1

Gestern Nacht besuchte mich der Freund voll Übermut.
Ich bat die Nacht, mein Geheimnis zu verbergen.
Sie erwiderte: „Sieh dich um, du hältst die Sonne,
und du bist haftbar für das Tageslicht!“

2

Bat ich Dich, so bat ich Dich
immer nur um Dich.
Schmückt ich mich, so schmückte stets
Deine Liebe mich.
Gestern sah ich einen Traum –
ich behielt ihn nicht,
doch ich weiß, dass ich berauscht
von dem Lager wich.

3

Ich erschuf dich aus einem Feuer
und gab dich zurück
einem anderen Feuer.
Du wurdest aus meinem Herzen
geboren wie ein Wort,
und wie ein Wort
verschweige ich dich zuletzt.

4

Sind die Liebenden beisammen,
alles anders ist;
Trunkenheit vom Wein der Liebe
völlig anders ist.
Jenes Wissen, das an Schulen
man erlernen kann,
anders ist als jenes Wissen,
das die Liebe ist.

5

Fern von Unglaube und Glaube
eine Wüste liegt;
Mitten in der offnen Wüste
unsre Liebe liegt.
Wissende, die sie erreichen,
sinken in den Staub –
fern von Unglaube und Glaube,
Raum und Zeit sie liegt.

6

Glaubst Du, dass ich weiß, was ich tue?
Dass ich auch nur einen Atemzug lang
oder einen halben mir selbst gehöre?
So wie eine Feder weiß, was sie schreibt,
oder der Ball ahnen kann, wo er hinrollen wird.

7

Liebende sehen die Dinge so, wie sie wirklich sind.
Denn sie sehen mit der Klarheit des göttlichen Lichts,
und ihre Liebe spricht die Mängel frei.

8

Wenn du Mich gesehen hast,
wie könntest du dich dann selbst betrachten?
Und wenn du Meiner gedenkst,
wie könntest du dich deiner selbst entsinnen?
Wenn du Mich kennst und Mich erblickt hast,
wie könntest du dich des Unglücks erinnern?
Wenn du mit Mir bist,
wie könntest du mit dir selbst sein,
und wenn du Mein Gefährte bist,
wie könntest du dein eigener Freund sein?

9

Sei Schnee, der schmilzt.
Wasch dich ab von dir.

10

Nach welchem ich frage: Wo ist er?
   Den ich in mir trage: Wo ist er?
Der ragende Baum der Gedanken,
   an den ich nicht rage: Wo ist er?
Ich frage die Hüter am Wege:
   Der Schönste im Hage: Wo ist er?
Ich frage die Wächter des Weinbergs:
   Der Schöne der Tage: Wo ist er?
Ich streiche durch Wälder und Felder:
   Der Hirsch, den ich jage: Wo ist er?
Um Mitternacht, wenn er mir fehlet,
   ich zittre, ich zage: Wo ist er?
Er ist nicht bei mir; bei den andern:
   Wo ist er?, ich klage: Wo ist er?
Dschelaleddin, wenn du ihn fandest:
   Ich such ihn!, o sage: Wo ist er?

11

Du bist der Schreiber und die Schrift bist Du,
   Tint’ und Papier und Schreibestift bist Du.
Du bist die Sternenschrift am Himmel dort,
   im Herzen hier die Liebeschrift bist Du.
Das Blatt, das treibt, das ausgetriebne Lamm,
   der Trieb, der Treiber und die Trift bist Du.
Du bist die Ruh, die Unruh bist Du auch,
   das Gift und auch das Gegengift bist Du.
Du Ebb’ und Flut, Windstill’ und Sturm und Meer;
   Schiffbruch und Schiff, und der drin schifft, bist Du.
Was kann ich treffen? Was kann treffen mich?
   Was trifft der Sinn, und was ihn trifft, bist Du!

12

Immer mehr werd ich begehren,
   als der Freund mir wird gewähren;
stets, je mehr ich Blumen pflücke,
   seh ich mehr den Lenz gebären.
Wo ich durch den Himmel schweife,
   rollen immer neue Sphären –
ach, es kann die ew’ge Schönheit
   nur die ew’ge Sehnsucht nähren!

13

Ums reine Licht hab ich die Flamme lieb gewonnen,
   ums goldne Schwert hab ich die Schramme lieb gewonnen.
Aus Liebe zu dem Hirten, der mein Leben weidet,
   hab ich das Glöcklein an dem Lamme lieb gewonnen.
Ich hab aus Liebe zu der milden Frucht am Baume
   das raue Moos an seinem Stamme lieb gewonnen.
Ich hab um Deiner jugendlichen Schönheit willen
   das welke Alter Deiner Amme lieb gewonnen.
Weil mir der Duft des Lebens haucht aus deinen Locken,
   hab ich den toten Bur am Kamme lieb gewonnen.
Ich habe, weil die Perle ruht im Meeresgrunde,
   das Körnlein Sand am Meeresdamme lieb gewonnen.
Weil Tau zur Liebesschminke wird im Rosenantlitz
   hab ich das Tröpflein Flut im Schlamme lieb gewonnen.

14

Das spröde Erz ist weich geworden,
   weich unter Deinem Streich geworden.
Du hast es ihm nicht fehlen lassen
   an Streichen, bis es weich geworden.
Das starre Herz war arm voll Hochmut
   und ist in Demut reich geworden.
Du gossest Ström’ auf dürre Wüsten,
   sie sind ein Gartenteich geworden.
Das Reich der Welt ging in Dir unter
   und ist zum Himmelreich geworden.
Der Liebende ward zum Geliebten,
   der Jünger ist zum Scheich geworden.
Wir waren ungleich an Begierden
   und sind in Liebe gleich geworden.

15

Mit Deiner Seele hat sich meine
   gemischt wie Wasser mit dem Weine.
Wer kann den Wein vom Wasser trennen,
   wer Dich und mich aus dem Vereine?
Du bist mein großes Ich geworden,
   und nie mehr will ich sein dies kleine.
Du hast mein Wesen angenommen,
   sollt ich nicht nehmen an das Deine?
Auf ewig hast Du mich bejahet,
   dass ich Dich ewig nie verneine.
Dein Liebesduft, der mich durchdrungen,
   geht nie aus meinem Mark und Beine.
Ich ruh als Flöt’ an Deinem Munde,
   als Laut’ in Deinem Schoß allein.
Gib einen Hauch mir, dass ich seufze,
   gib einen Schlag mir, dass ich weine.
Süß ist mein Weinen und mein Seufzen,
   dass ich der Welt zu jauchzen scheine.
Du ruhst in meiner Seele Tiefen
   mit Deines Himmels Widerscheine.
O Edelstein in meinen Schachten,
   o Perl’ in meinem Muschelschreine.
Mein Zucker ist in Dir zerschmolzen,
   o Milch des Lebens, milde, reine;
und unsre beiden Süßigkeiten
   genießet Kindermund als eine.
Du presstest mich zu Rosenwasser,
   nicht seufzt’ ich unter Deinem Steine.
In Deiner süßen Qual vergaß ich,
   dass ich die Rose war am Raine.
Da brachtest Du an Deinen Kleidern
   mich mitten unter die Gemeine;
und als Du auf die Welt mich gossest,
   ward sie zu einem Rosenhaine.

16

Wer von Lieb’ nicht Farbe hat,
   ist bei Gott nur Stock und Stein.
Liebe lockt aus Steinen Wasser,
   Liebe glättet Spiegel rein.
Liebe tut des Herzens Mund auf
   und verschlinget beide Welten.
Nur die Liebe hilft der Seele
   aus des Körpers finstrem Kerker.
Lieb’ ist anfangs nur Verwirrung,
   Seele und Vernunft sind irr.
Bei Täbrizi ist mein Herz!
   Ostwind! Grüß ihn unverweilt!

17

Welch eine Werkstatt hast im Herzen?
   Welch einen Abgott trägst im Herzen?
Es kam der Lenz, die Zeit der Saaten –
   wer weiß, was du gebierst im Herzen?
Der Allmachtschleier, der das Äußere
   verhüllt, ist aufgedeckt im Herzen;
der Fuß des Suchers weilt im Schlamm,
   allein sein Kopf ist frei im Herzen.
Wenn’s Herz nicht höher wär’ als Himmel,
   so stände nicht der Mond im Herzen,
und wär’ das Herz nicht eine Hauptstadt,
   so thronte nicht der Herr im Herzen.
Es ist ein wunderbar’ Gehölze,
   denn Königsjagd ergeht im Herzen.
Des Herzens Meer schlägt tausend Wogen,
   die Perlen findest du im Herzen.
Ich schweig’ – es fasset nicht Gedanke
   des Herzens Bild in meinem Herzen.

18

Wer deine Wangen sieht, ins Rosenbeet nicht geht,
   wer deine Krankheit hat, um Arznei nicht geht.
Wer einen Augenblick mit dir im Kabinett,
   die Tulpen und Basilicon zu schau’n nicht geht.
Wenn Chiser den Rubin des Zuckermundes findet,
   er weiter nach dem Quell des Lebens nicht mehr geht.
Darf man nicht hoffen, dich im Paradies zu finden,
   kein Liebender alsdann nach Edens Garten geht.
Von ewig brannte mir die Liebe ein dein Mal,
   das nun in Ewigkeit aus Seel’ und Herz nicht geht.
Ich sang, o Schams Täbrizi!, dies mit deinen Worten:
   Der Liebende ist irr, der nicht zum Liebchen geht!

19

O komme, komm!, du bist die Seele, Seel’ des Reigens,
   o komm!, du bist der Zederstamm im Hain des Reigens.
O komm!, denn keiner war wie du und wird nicht sein,
   o komm!, denn Gleichen sah noch nie das Aug’ des Reigens.
O komm!, es fließt der Sonnenquell in deinem Schatten,
   und tausend Morgensterne tanzen dir den Reigen.
Mit hundert Rednerzungen preiset dich der Reigen,
   ich will nur ein paar Worte sagen von dem Reigen.
Du trittst aus beiden Welten tretend in den Reigen,
   denn über beide Welten ist die Welt des Reigen.
Zwar ist wohl hoch das Dach des siebenten der Himmel,
   darüber reicht hinaus die Leiter von dem Reigen.
Was soll ich tun, wenn mich ergreift die Lieb’ beim Nacken,
   wie den Gefährten ich ergreife in dem Reigen.
Das Sonnenstäubchen, wenn erfüllt vom Glanz der Sonne,
   beginnt zu tanzen dann mit Schweigen seinen Reigen.
O komm!, dies ist ein Bild der Liebe, Schams Täbrizi!
   Zurück bleibt in der Liebe, wer nicht tanzt den Reigen.

20

Erheb den Kopf, wir gehen auf dem Kopf der Liebe,
   wir gehen kurze Zeit ganz seelenrein in Liebe.
Vom Tode hörte ich die Nachricht ew’ger Liebe,
   vom Weine Gottes, der den Tod ertränkt in Liebe.
Des Daseins Nabel riss ich nur durch Kraft der Liebe,
   am Tag des Fests gebar als Mutter mich die Liebe.
O frag die Liebe: Wie entgehet man der Liebe?
   Ein Ring ohn’ Anfang, ohne Ende ist die Liebe.
Es mahlen sich Gestalten auf dem Flor der Liebe,
   von ihrem Widerschein erglänzt der Flor der Liebe.
Gib deinen Leib wie Gold dem Schmerz nicht nur der Liebe!
   Denn Staub ist Gold, das nicht verwendet wird auf Liebe.
Ich sage dir, warum das Meer die Wogen schlaget:
   Es tanzt im Glanz des Lichts des Edelsteins der Liebe.
Ich sage dir, warum aus Ton Huris geformt sind:
   Weil er durchduftet ward vom Ambrahauch der Liebe.
Ich sage dir, warum der Himmel immer kreiset:
   Weil er beweget wird vom Sternenglanz der Liebe.
Ich sage dir, warum der Wind bläst Stoß auf Stoß:
   Dass er die Flut in Blätter trenne für die Liebe.
Ich sage dir, warum die Nacht umhängt den Schleier:
   Weil sie damit bedeckt das Brautgezelt der Liebe.
Ich sage dir von Vier und Fünf und Sieben das Geheimnis,
   denn ich verlor mein Spiel im Damenbrett der Liebe.

21

Schlaf nicht, Gastfreund! Diese Nacht
du bist Geist, und wir sind krank,
diese Nacht.

Jag den Schlaf aus deinem Auge,
das Geheimnis werde klar,
diese Nacht.

Du bist Jupiter am Himmel,
kreisend an dem Hochgewölb’,
diese Nacht.

Jagst den Adler in der Höhe
wie die Seele von Dschafer,
diese Nacht.

Von der Wahrheit wirst geglättet,
aus dem Blau wird endlich Grünspan,
diese Nacht.

Gott sei Dank! Sie schlafen alle,
ich und Gott nur sind allein,
diese Nacht.

Welch Getümmel! Glück ist wach,
und die Wahrheit ist beständig,
diese Nacht.

Schlief’ das Auge bis am Morgen,
würd’ ich meinem Auge zürnen,
diese Nacht.

Wenn der Marktplatz leer ist, schau
auf zum Markt der Sternenstraße,
diese Nacht.

Unsre Nacht ist hell von Sternen,
die uns in das Auge leuchten,
diese Nacht.

Löw’ und Stier und Widder strahlen,
und es trägt Merkur den Turban,
diese Nacht.

Seinen Groll verbirgt Saturnus,
Jupiter wirft Goldstück’ aus,
diese Nacht.

Schweigend band ich meine Zunge,
doch ich rede ohne Zunge,
diese Nacht.

22

Das Fest ist gekommen, das Fest ist gekommen,
   das Glück ist gekommen!
Du nehme die Trommel und schlage dieselbe,
   der Mond ist gekommen!
Das Fest ist gekommen, o höre, Verliebter,
   das Lärmen der Sphären!
Vom obersten Throne des Himmels ist nun
   der Vertraute gekommen!
Das Fest ist gekommen, ihr Sucher des Weges!
   Ihr Sänger! Ihr Tänzer!
Das Lusthaus der Schönen ist nun
    aus dem ewigen Lusthaus gekommen.
Wohl Hundert der Weisen sie sind nun
    auf einmal zu Narren geworden,
weil solche Gestalt, die noch keiner geseh’n
   und gehöret, gekommen.
Durch zaub’rische Kräfte berauscht Er Propheten,
   als wären sie trunken,
den Stahl und das Eisen verkehrt Er in Wachs
   wie zur Hand es gekommen.
Erheb dich!, und geh auf den Platz
   in die Kreise lebend’ger Gesichter,
entgegen dem lieblichen Gaste,
   der weitesten Weg’s ist gekommen.
Nun freue dich fröhlichen Herzens
   und heiteren, freieren Mutes!
Ein einziges Körnlein gesäet, es brachte
   wohl hundertmal Frucht dir.

23

Ich bin der Vogel der Gottheit, trommelnd: Bakrabaku,
   berauscht vom Weine der Einheit, trommelnd: Bakrabaku.
Das Glas des Weines, der Zucker bin ich, Braten bin ich,
   ich bin die Laute, die Geige, trommelnd: Bakrabaku.
Ich bin der Weg von Hedschas, Gebet und Psalter bin ich,
   vertraut mit allem Geheimnis, trommelnd: Bakrabaku.
Ich bin das ewige Los, die trunkene Nachtigall ich,
   ich bin der Ring am Finger, trommelnd: Bakrabaku.
Wiewohl von Menschen erzeugt, bin ich von Ewigkeit her
   der Gegenstand des Gebets, trommelnd: Bakrabaku.
Ich bin die Krankheit, das Mittel, bin Assaf und Safa,
   ich preise eigenen Wert an, trommelnd: Bakrabaku.
Ich bin der Quell der Erschaffung, bin der Weiser des Wegs,
   ich bin die Kette der Narrheit, trommelnd: Bakrabaku.
Ich bin die Kaaba und Mina, Safa bin ich und Merw’,
   ich bin ein Stäubchen der Sonne, trommelnd: Bakrabaku.
Ich bin nicht Ich, in dem eignen Leibe bin ich nicht Ich;
   Er ist in Wahrheit der Körper, trommelnd: Bakrabaku.
Ich bin der Schah und der Bettler, Mond und Himmel bin ich,
   ich bin der Weg und das Ziel ich, trommelnd: Bakrabaku.
Ich bin der Papagei und der Baum des Lebens zugleich,
   ich bin die Flamme der Lampe, trommelnd: Bakrabaku.
Ich bin der kreisende Himmel, Licht und Schimmer bin ich,
   ich bin der Morgen und Abend, trommelnd: Bakrabaku.
Ich bin die Sonne des Glaubens, bin Gewissheit fürwahr!
   Unglaube bin ich und Glaube, trommelnd: Bakrabaku.

24

Ich war, als noch kein Himmel war,
   vom Dasein keine Spur noch war,
als nur die Locke meines Freunds
   und Gott der Allerhöchste war.
Die Namen gingen von mir aus
   zur Zeit, als Ich und Wir nicht waren.
Ich betete, als noch im Schoß
   Marias kein Messias war.
Ich suchte Kreuz und Christen auf,
   doch was ich sucht’ am Kreuz nicht war.
Ich ging zum Tempel, ins Konvent,
   wo nirgends Stoff und Farbe war.
Zur Kaaba zog ich endlich hin,
   wo auch kein Knab und Jüngling war.
Ich ging nach Herw und Kandahar
   und sucht’ was nicht zu finden war.
Ich wallte nach dem Berge Kaf,
   wo Anka nicht zu sehen war.
Die sieben Himmel ging ich durch,
   auf sieben Erden Er nicht war.
Beim Lose suchte ich den Freund,
   es hieß, dass er nicht dorten war.
Mit Gottesseherblick sah ich,
   was in der Wesenheit nicht war.
Zuletzt sah ich ins eigene Herz,
   wo Er allein zu finden war!
Ich war so sehr erstaunt, fürwahr!,
   dass kein Atom zu sehen war,
dass außer Schams Täbrizi rein,
   kein Trunkener zu finden war!!

25

Gestern schlug ich noch der Herrschaft Pauke,
   schlug das Zelt auf an dem höchsten Thron,
trank im Himmel reinen Wein der Einheit
   Gottes, aus der Hand des Herzgeliebten.
So betrunken, dass von Trennungsgluten
   ich der reinen Geister Zell’ ansteckte;
als mir Wein und Glas und Schenke eins war,
   trat ich Gauern und Muslimen nieder.
Wieder war ich trunken und von Sinnen,
   Salomonen gleich das Herz beherrschend.
Ich beschritt wie Er des Ostwinds Flügel,
   maßte mir die Weltenherrschaft an.
Dieses Glück kam mir von Schams Täbrizi,
   falle deshalb sinnenlos zu Boden.

26

Was bin ich denn? Ich bin die große Sonne
und auch des Sonnenstäubchens Tanz im Äther,
ich bin die Morgen- und die Abendröte,
der Sang des Haines und das Meeresrauschen,
ich bin der Mast des Schiffes und das Schiff,
das Steuer und die Hand, die es regiert,
und auch die Klippe, dran das Fahrzeug scheitert.
Der Vogelsteller, Netz und Vogel bin ich
zugleich; der Spiegel und das Bild darin;
der Schall und Widerhall; bin Rausch und Wein,
der Klang der Flöte und der Mund des Bläsers,
im Stein der Funke und das Gold im Erz.
Der Trinker bin ich und der Schenke. Kerze
und Licht der Kerze und der Schmetterling,
der schwärmend in dem Kerzenlicht vergeht.
Ich bin der Arzt, die Krankheit und der Kranke,
das Gift und Gegengift, die Rose und
die Nachtigall, berauscht vom Rosenduft.
Ich bin die Bitterkeit und auch das Süße,
bin Krieg und Frieden, Sieg und Niederlage,
bin Mörtel, Kelle und der Riss der Mauer
und auch der Meister, der den Riss verschließt.
Ich bin der Grundstein und des Hauses First,
sein Aufbau und allmählicher Verfall,
der Löwe und die schüchterne Gazelle,
das Lamm und auch der Wolf und auch der Hirt,
der alle friedlich eint in seiner Hürde.
Ich bin des Mannes Sang, des Kindes Lallen,
der Wind der Welt, das Steigen und das Fallen.

27

Ich bin des Sultans Knecht, ich bin der Welt Sultan,
   seit ich den Glanz geseh’n, bin ich erstaunt und irr.
Ich kose wie ein Papagei und wie Simurg,
   ich bin das Edelste von Menschen und von Tier.
Ich bin der Geist, ich bin die Ruh und Gottes Knecht,
   ich bin der Sonne Schutzgenoss, der Sohn Dschemschids.
Ich bin das Paradies und die Huris zugleich,
   ein Staub der Gottheit und ein Teil der Menschheit auch.
Das Obre, Untre, Höchste und das Niederste,
   den Himmel setzt’ ich und die Elemente ein.
Ich bin das Licht und Tag und Nacht und Finsternis.
   Der Inn’re und der Äußre bin ich, der und der.
Ich bin der Mond, die Sonne, Ros’ und Rosenbeet,
   bin Jupiter und Mars, Saturn und Abendstern.
Ich bin der Kaiser Licht und Gottes Liebender,
   ich suche seinen Thron, ich hab Ihn schon erkannt.
Ich bin der Geist der Hülf’, ich bin der Zweifel Ost,
   ich bin Verstand und Geist, die Seele und der Leib.
Ich bin so Licht als Glut und trage Feuergürtel,
   ich bin ungläubig, gläubig, Gauer und Muslim.
Ich bin zur Wahrheit und zur Einigkeit gelangt,
   bin eins und mehrfach, bin versammelt und zerstreut,
bin einsam und besucht, erkennend und bekannt,
   abwesend, gegenwärtig, verdecket und enthüllt;
unwissend und gelehrt, so tätig als in Ruh,
   so Pilger, als Wegweiser, Diw und Salomon.
Ich war ein Zeitgenoss’ von Noah, ihm vertraut,
   ich regnete und war selbst in der großen Flut.
Ich bin die Lieb’, der Liebende, berauscht, erstaunt,
   ich bin Jussuf und Kanaan, Chosru, Chakan.
Ich widerspreche und ergebe mich zugleich,
   ich bin der Feind von Pharao und Moses auch,
bin Maghe und Derwisch, bin Wunde und das Pflaster,
   bin Stachel und Arznei, bin Krankheit und das Mittel,
bin in der Frommen Kreis und doch auch im Bordell,
   ich trage des Gehorsams Joch und bin empört.
Ich bin die Kerze und der Schmetterling im Kreis,
   ich bin das Netz, das Korn, der Schatz, die Wüstenei,
ein Sünder und ein Gott, ein Freier und berauscht;
   ich bin der Herr des Diwans, und bin es auch nicht.
O Schams Täbrizi!, du hast endlich obsiegt,
   ich schaue endlich Gott, und ich erkenne Gott.

1, 3  [Rumi], 7, 8 [Schamsuddin, Geliebter Rumis]  Rumi, Die Sonne von Tabriz, und: Rumi, Ich sprach zur Nacht, beide übersetzt von Cyrus Atabay, Eremiten Presse, Düsseldorf
2, 4, 5  Dschalaluddin Rumi, Vierzeiler, Castrum Peregrini Presse, Amsterdam 1989
6  Suzanne Segal, Kollision mit der Unendlichkeit, Kamphausen Verlag, Bielefeld 1997
Alle mit freundlicher Genehmigung der Verlage
9  Nicht erinnerlich
10 bis 15  Mewlana Dschelaleddin Rumi, Das Meer des Herzens geht in tausend Wogen. Aus dem Persischen von Friedrich Rückert, Dagyeli Verlag, Frankfurt
16 bis 25, 27  Joseph von Hammer-Purgstall, Geschichte der schönen Redekünste Persiens, mit einer Blüthenlese aus zweyhundert persischen Dichtern, Heubner und Volke, Wien 1818
26  Hans Bethge, Der persische Rosengarten, Nachdichtungen persischer Lyrik, Herbert Schult Verlag, Heidenheim 1980