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Friedrich Rückert

1

Du stehest überall an der Gedanken Grenze,
und halb ist alles, was ich nicht durch Dich ergänze.

Du Anfang nicht allein und Ende meines Seins,
auch Mitte Du, darin ich mit mir selbst bin eins.

Ich mit mir selbst bin eins, wo ich mich find in Dir;
und wo ich Dich verlor, kam ich abhanden mir.

2

Ich finde Dich, wo ich, o Höchster, hin mich wende,
am Anfang find ich Dich und finde Dich am Ende.

Dem Anfang geb ich nach, in Dir verliert er sich,
dem Abschluss späh ich nach, aus Dir gebiert er sich.

Du bist der Anfang, der sich aus sich selbst vollendet,
das Ende, das zurück sich in den Anfang wendet.

Und in der Mitte bist Du selber das, was ist:
Und ich bin ich, weil Du in mir die Mitte bist.

3

Mein wandelbares Ich, das ist und wird und war,
ergreift im Dein’gen sich, das ist unwandelbar.

Denn Du bist, der Du warst, und bist, der sein wirst, Du!
Es strömt aus Deinem Sein mein Sein dem Deinen zu.

Ich hätt in jeder Nacht mich, der ich war, verloren,
und wär an jedem Tag, als der nicht war, geboren,

hätt ich mich nicht, dass ich derselbe bin, begriffen,
weil ich in Dir, der ist, bin ewig inbegriffen.

4

Seufzend sprach ich zu der Liebe,
als ich sie entschleiert sah:
„Ach, dass so Dein Antlitz bliebe
meinen Blicken ewig nah!

Doch wie Dich die Sehnsucht freier
schauet einen Augenblick,
senket wieder sich der Schleier
und verdüstert mein Geschick.“

Liebe sprach: „In ewig reinem
Lichtestrahl ich – o du Tor:
Nicht von meinem, sondern deinem
Angesichte hängt der Flor!“

5

Du bist mein Mond, und ich bin Deine Erde.
Du sagst, Du drehest dich um mich.
Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass ich werde
in meinen Nächten hell durch Dich.

Du bist mein Mond, und ich bin Deine Erde.
Sie sagen, du veränderst Dich.
Allein, du änderst nur die Lichtgebärde,
und Du liebst mich unveränderlich.

Du bist mein Mond, und ich bin Deine Erde.
Nur mein Erdschatten hindert Dich,
die Liebesfackel stets am Sonnenherde
zu zünden in der Nacht für mich.

6

Du gehest ein in mich, und ich geh in Dich ein;
Dich atm’ ich ein und aus, ein Hauch von Dir mein Sein.

Ich höre Dich in mir, und in Dir fühl ich mich,
und alles sieht mein Aug in Dir, in allem Dich.

Du bist das Licht von mir, ich bin von Dir der Schatten;
ich möcht in Dir zergehn, die Welt will’s nicht gestatten.

Du bist das Licht in mir und zehrest auf von innen
den Schatten, dass er muss der Welt zum Trotz zerrinnen.

O zehr die Welt in mir nur auf mit Deinem Glanz,
die mir nur halb genügt – nur Du genügst mir ganz!

7

Auf Erden gehest Du und bist der Erden Geist;
die Erd erkennt Dich nicht, die Dich mit Blüten preist.

Auf Sonnen stehest Du und bist der Sonne Geist;
die Sonn erkennt Dich nicht, die Dich mit Strahlen preist.

Im Winde wehest Du und bist der Lüfte Geist;
die Luft erkennt Dich nicht, die Dich mit Atmen preist.

Auf Wassern gehest Du und bist des Wassers Geist;
das Wasser kennt Dich nicht, das Dich mit Rauschen preist.

Im Herzen stehest Du und bist der Liebe Geist –
und Dich erkennt das Herz, das Dich mit Liebe preist!

8

O sage, wo Du bist,
wo Du nicht bist, o sage!
Du überall in Nacht
und überall zu Tage.

Die Wahrheit Du allein,
und alles andre Schein,
und aller Schein, was könnt’ er
außer Wahrheit sein?

Die liebend suchen Dich,
sind nicht zu Dir gekommen;
und die Dich fliehen, sind nicht
deiner Liebe entronnen.

Die fern sich fühlen Dir,
sind drum Dir nicht entrissen;
doch selig sind allein,
die sich Dir nahe wissen.

9

Zwei Sonnenstrahlen, von der Sonne ausgegangen,
vergaßen unterwegs, von wannen sie entsprangen.
Und hätten sie es nicht vergessen, wären sie
zur Sonne heimgekehrt, gelangt zur Erde nie.
Zur Welt gelangten sie und wirkten da geschäftig,
sonnenvergessen zwar, wirkten sie sonnenkräftig.

Da kamen sie sich nah in ihrem Wirkungskreise:
„Wer bist du und woher?“, befragten sie sich leise.
„Ich weiß es nicht, allein du scheinst ein Fremdling mir;
so bin ich einer auch, ich fühl’s, ich gleiche dir.
Und sind wir Fremdlinge, wo ist die Heimat nun?
Dahin zusammen lass uns doch die Reise tun.“

Der Sonn Erinnrung ging in beiden Strahlen auf,
und freudig Hand in Hand nahmen sie heim den Lauf,
sich dankend unterwegs, dass jeder das gefunden
im Blick des andern, was ihm selber war geschwunden.
Wie sollten sie vereint zur Sonne nicht gelangen,
die hier dem einen schon im andern aufgegangen?

10

Es strömt ein Quell aus Gott, und strömt in Gott zurück,
der Einstrom hohe Lust, der Ausstrom höchstes Glück.

Es strömet in dich ein durchs offne Tor der Sinnen
und strömet aus dadurch, und nimmt dich mit von hinnen.

Durchs Auge strömt er ein als Licht, dass er verkläre
dein Innres, und entströmt verklärt als Freudenzähre.

Den Geist zu wecken, strömt er ein als Ton durchs Ohr
und strömt aus deinem Mund als Dankgebet hervor.

Einströmt er dem Geruch als Lenzduft, Sehnsuchtshauch,
und strömt im Atem aus als Seufzeropferrauch.

Er strömt durch den Geschmack ins Mark und ins Gehirne,
und als Gedanke tritt er leuchtend aus der Stirne.

Er strömt als irdischer Empfindungen Gewühle
ins Herz, und aus der Brust als himmlische Gefühle.

Du fühlest: Was du bist, ist er in dir, nicht du;
und strömst in dem Gefühl dich deinem Urquell zu.

11

O sei in keinem Augenblick,
mein Herz, von Rausch und Liebe leer.
O wirf die Welt dir vom Genick,
und deine Ichheit wirf ins Meer.

Der Liebe Meer ist reich und tief,
die Eigenlieb’ ist kahl und seicht.
Der Gang der Welt ist dumpf und schief,
der Flug der Lieb’ ist hoch und leicht.

Sieh an den frommen Mönch, und nimm
ein Beispiel dran, nicht so zu sein.
Der Herr lässt leben gut und schlimm,
die Selbstsucht nur verdammt allein.

Wenn du den Himmel hast in dir,
so ist dir Tod und Leben gleich.
Und hast du nicht den Himmel hier,
was nützt dir dort das Himmelreich?

Lieb’ etwas hier und bet’ es an,
vergöttre nur dich selber nicht. –
Mir brach der Eigenliebe Wahn,
als ich Dir sah ins Angesicht.

Du hast mit deiner Locken Band
der Ichheit Fesseln abgestrüpft,
und an der Seelen Vaterland
mit deinen Blicken mich geknüpft.

Es hätte mich Verzweifelung
getötet über deinen Glanz,
hätt’ ich in Liebeshuldigung
nicht dir mich hingegeben ganz.

Du hast die Welt in Licht getaucht
und hast mich außer mich gestellt,
von deinem Odem angehaucht,
in dir zu schauen Gott und Welt. –

Ein Götzendiener bist du zwar,
Hafis, doch dienst auch du dem Herrn;
denn wessen Rausch die Liebe war,
wie wär’ dem Quell der Lieb’ er fern?

12

Triumph! das Leben siegt; Triumph! der Tod erliegt,
ein Wolkenschatten, der vorbei der Sonne fliegt.

Wie hell aus Wolkenflor die Sonne bricht hervor,
so brach aus Kummernacht mein Freudenlicht empor!

Ich preise Dich, Geliebter, und ich will Dich ewig preisen,
Du ew’ger Mittelpunkt in allen Lebenskreisen.

Im Raume stehst Du nicht, Raum steht und Zeit in Dir,
mit allem, was Dich fühlt, stehst Du und stehst in mir.

Dich fühlt des Menschen Herz, das stolze, nicht allein,
Dich fühlt das Tier, Dich fühlt die Pflanze, fühlt der Stein.

Dich preisend kommen sie und gehn, Dich preisend, wieder;
die Schöpfung wacht in Dir und legt in Dir sich nieder.

Ich bin in Dir erwacht und werd in Dir entschlafen,
ich schweb in Dir, mein Meer, und ruh in Dir, mein Hafen.

Ich klage nicht, dass ich dahingehn werd im Nu:
Ich jauchze, dass ich bin und ewig bleibest Du!

1, 2, 3, 6, 7, 8, 9, 10, 12  Friedrich Rückert, Die Weisheit des Brahmanen. Ein Lehrgedicht in Bruchstücken, Wallstein Verlag, Göttingen 1998
1: Buch 18, Gedicht29
2: Buch 5, Gedicht 106
3: Buch 5, Gedicht 113
6: Buch 10, Gedicht 66
7: Buch 1, Gedicht 84
8: Buch 14, Gedicht 24
9: Buch 5, Gedicht 68
10: Buch 1, Gedicht 82
12: Buch 10, Gedicht 48
4  Friedrich Rückert, Gesammelte Gedichte, Erster Band, Fünfte Auflage, Verlag Carl Heyder, Erlangen 1840, Liebesfrühling, Dritter Strauß, Gedicht 44
5  Friedrich Rückert, Gesammelte Gedichte, Vierter Band, Verlag Carl Heyder, Erlangen 1837, Erotische Blumenlese aus Dichtern verschiedener Völker und Zeiten, Gedicht 13
11 Friedrich Rückert, Gesammelte Gedichte, Vierter Band, Verlag Carl Heyder, Erlangen 1837, Östliche Rosen, Liebesandacht