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Marguerite Porete

1

die seele: Ich bekenne es Euch, Frau Liebe, sagt diese Seele: Es gab eine Zeit, da stand ich im Dienst der Tugenden, aber jetzt hat Eure Vornehmheit mich daraus befreit. Und deshalb kann ich jetzt zu ihnen sagen und singen:

Tugenden! Ich nehme Abschied von euch für immer! Mein Herz ist nun ganz frei und heiter gestimmt. Euer Dienst ist zu beschwerlich, das weiß ich sehr wohl. Früher habe ich mein Herz rückhaltlos an euch gehängt. Ihr wisst, dass ich euch ganz hingegeben war. Ich war eure Leibeigene, aber jetzt bin ich befreit. Mein ganzes Herz hatte ich an euch gehängt, ich weiß es wohl. So lebte ich eine Zeitlang in großer Bedrängnis. Viele Qualen habe ich erlitten und große Schmerzen erduldet. Es ist ein Wunder, dass ich da lebend herausgekommen bin! Nun, so war es, und jetzt, da es vorbei ist, macht es mir nichts mehr aus: Ich bin von euch losgelöst! Dafür danke ich Gott im Himmel – gut war jener Tag für mich! Ich bin eurer Herrschaft entzogen, die mir viel Verdruss bescherte. Niemals war ich freier, als da ich geschieden von euch war. Ich bin aus eurer Gewalt entkommen und ruhe jetzt im Frieden.

2

die liebe: Diese Seele, sagt die Liebe, achtet weder auf Schande noch auf Ehre, weder auf Armut noch auf Reichtum, weder auf Unbehagen noch auf Wohlgefühle, weder auf Liebe noch auf Hass, weder auf die Hölle noch auf das Paradies.

der verstand: Ah, um Gottes willen, Liebe!, sagt der Verstand, was soll das heißen, was Ihr da sagt?

die liebe: Was das heißt?, sagt die Liebe. Gewiss, das versteht nur derjenige und kein anderer als der, dem Gott den Geist des Verstehens gegeben hat – ihn lehrt weder die Schrift, noch begreift es der menschliche Geist, noch nützt das kreatürliche Bemühen nach Begreifen und Innewerden etwas. Diese Gabe stammt vielmehr vom Allerhöchsten, in den dieses Wesen entrückt wurde durch die Fülle an Erkenntnis, in der nichts von ihrem Eigenen verblieb. Und eine solche Seele, die ein Nichts geworden ist, besitzt dann alles und besitzt doch nichts, will alles und will nichts, weiß alles und weiß doch nichts.

3

die liebe: Diese Seele fürchtet sich nicht vor Drangsalen, sie lässt sich nicht aufhalten von Vertröstungen, sie wird nicht schwach im Angesicht von Verlockungen, noch wird sie kleiner durch einen Entzug. Sie ist allem verbunden in der Freigebigkeit der reinen Nächstenliebe, und so verlangt sie von niemandem etwas auf Grund der Vornehmheit und Großzügigkeit der reinen Güte, mit der Gott sie erfüllt hat. Sie ist zu jeder Zeit besinnlich ohne Trübsinn, fröhlich ohne Ausgelassenheit, denn Gott hat in ihr seinen Namen geheiligt, und die Dreieinigkeit hat in ihr ihre Wohnung.

4

die liebe: Eine solche Seele verlangt weder noch verachtet sie Armut noch Bedrängnis, eine Messfeier noch eine Predigt, weder Fasten noch ein Gebet. Sie gewährt der Natur alles, wessen sie bedarf, ohne Gewissenszweifel. Jedoch ist eine solche Natur so wohl geordnet durch die Umformung in der Liebeseinheit, in die der Wille dieser Seele verschlungen ist, dass die Natur gar nichts verlangte, was verboten wäre. Eine solche Seele sorgt sich nicht um das, was sie braucht, außer gerade zu der Stunde, da sie es braucht. Diese Seele lernt in der Schule der Gottheit, und sie hat ihren Sitz im Tal der Demut und in der Ebene der Wahrheit, und sie ruht auf dem Berg der Liebe.

5

die liebe: Diese freie Seele, sagt die Liebe, wird gehalten von einem Joch mit zwei gleich starken Kräften, eine auf der rechten Seite und eine auf der linken. Durch diese zwei Kräfte ist die Seele stark gegen ihre Feinde, wie eine Burg inmitten des Meeres, die man nicht untergraben kann. Die eine dieser Kräfte, die die Seele gegen ihre Feinde standhaft bleiben lässt und ihr die Schätze ihres Reichtums bewahrt, ist die wahrheitsgemäße Erkenntnis ihres eigenen Bedürftigseins. Die Kraft zu ihrer Linken, die sie allezeit stützt, ist die Stärke. Und die zu ihrer Rechten ist jene hohe Erkenntnis, die die Seele von der reinen Gottheit empfängt.

Von diesen zwei Kräften wird die Seele gehalten, weshalb sie sich um die Feinde links und rechts von ihr nicht zu kümmern braucht. Sie ist von heiliger Ehrfurcht dermaßen erfüllt, sagt die Liebe, durch die Erkenntnis ihrer Armut, dass sie der Welt und sich selbst ganz entrückt zu sein scheint. Und sie ist so trunken von der Erkenntnis der Liebe und Gnade der reinen Gottheit, dass sie allezeit trunken von Erkenntnis und erfüllt mit dem Lobpreis der göttlichen Liebe ist. Und nicht nur trunken ist sie von dem, was sie trank, sondern berauscht und noch mehr als berauscht von dem, was sie nicht trank noch jemals trinken wird.

6

die liebe: Eine solche Seele empfindet keinerlei Beunruhigung mehr wegen einer Sünde, die sie jemals begangen haben mag, noch macht sie sich irgendeine Hoffnung auf etwas, das sie zu tun könnte, sondern einzig und allein auf die Güte Gottes. Und der verborgene Schatz dieser alleinigen Güte hat sie innerlich zunichte gemacht, so dass sie allen inneren und äußeren Empfindungen abgestorben ist, und das in einem Grad, dass eine solche Seele keinerlei Werke mehr verrichtet, weder für Gott noch für sich selber. Und so hat sie auf diese Weise alle Fähigkeiten ihrer Sinne verloren, so dass sie Gott weder zu suchen noch zu finden versteht, ja nicht einmal mehr sich zu benehmen weiß. Diese Seele, sagt die Liebe, ist nicht mehr bei sich.

die furcht: Aber, Liebe, sagt die Furcht, wo ist denn eine solche Seele, wenn sie nicht mehr bei sich ist?

die liebe: Sie ist da, wo sie liebt, spricht die Liebe, ohne dass sie das eigens fühlte. Deshalb lebt eine solche Seele ohne Vorwurf des Gewissens, weil sie von sich aus nichts tut. Denn wer irgendeine Sache aus eigenem Antrieb tut, ist niemals frei von sich selber; immer sind seine Natur und sein Verstand mit ihm. Einer aber, sagt die Liebe, der aus Liebe gestorben ist, fühlt weder Verstand noch Natur, ja er kennt sie nicht einmal mehr. Eine solche Seele verlangt weder nach einer der Freuden des Paradieses – wie sehr man sie auch zu einer Wahl drängen möge – noch weist sie Höllenqualen jedweder Art zurück, würde ihr das freigestellt sein.

7

die seele: Solche Geschöpfe wissen nicht mehr von Gott zu sprechen, denn so wenig sie zu sagen wissen, wo Gott ist, so wenig wissen sie zu sagen, wer Gott ist. Wer auch immer von Gott spräche, und zu wem und wo und wann er spräche und wo immer er spräche, der soll keinen Zweifel haben, vielmehr ohne Zweifel wissen, sagt diese Seele, dass er noch niemals etwas vom wahren Kern der göttlichen Liebe verspürt hat: Der lässt die Seele vollkommen überraschend sich selbst vergessen. Die Gewohnheit solcher Seelen ist es, viel zu erfassen und – wegen der Subtilität des Geliebten – augenblicklich alles wieder zu vergessen.

8

die liebe: Eine solche Seele hat keinerlei Willen mehr, und deshalb kümmert sie nicht, was Gott tut, wenn er nur immer seinen Willen tut. Denn diese Seele, sagt die Liebe, ist losgelöst und im Frieden. Sie hat weder Hölle noch Paradies noch irgendein geschaffenes Ding nötig.

Diese Rede wird gewiss all jenen fremd erscheinen, die von der Liebe große Gewinne erhoffen! [Aber:] Um so viel einträglicher wie das Wirken Gottes als das Wirken der Kreatur ist, um so viel einträglicher ist das Nichtwollen in Gott als das Wollen im Namen Gottes.

9

die liebe: Meer der Wonne, das der Gottheit entfließt und aus ihr strömt. Dabei empfindet sie selbst keine Freude und schwimmt und fließt in der Freude, ohne die Empfindung irgendeiner Freude. Sie ist die Freude selbst kraft der Freude, die sie in sich selbst umwandelt. Nun ist da ein gemeinsames Wollen, wie Feuer und Flamme, wie das Wollen des Liebenden und des Geliebten, denn die Liebe hat diese Seele in sich verwandelt.

die seele: Ach, überaus süße, rein göttliche Liebe, sagt diese Seele, was ist das für eine beseligende Umwandlung, durch die ich umgewandelt bin in das, was ich mehr liebe als mich selbst! Und so ganz bin ich umgeformt, dass ich vor Liebe meinen Namen verloren habe, ich, die ich so wenig zu lieben vermag. Wie wenig auch mein Lieben sein mag, bin ich doch in der Liebe, denn ich liebe nichts als die Liebe allein.

10

der verstand: Nun, Liebe, sagt der Verstand, ich habe da noch immer eine Frage. Dieses Buch sagt, diese Seele habe Abschied von den Tugenden genommen, und das in jeder Hinsicht, während Ihr behauptet, dass die Tugenden mit diesen Seelen sind, und das vollkommener als mit irgendwelchen anderen. Dies sind zwei einander widersprechende Aussagen, wie mir scheint, sagt der Verstand. Ich weiß nicht, wie ich sie verstehen soll.

die liebe: Ich werde Eure Fragen beantworten, sagt die Liebe. Es ist wahr, dass diese Seele Abschied von den Tugenden genommen hat, was deren Ausübung betrifft sowie das Verlangen, ihre Anweisungen zu befolgen. Aber die Tugenden haben sich nicht von ihr verabschiedet, denn sie sind allezeit mit ihr und gehorchen ihr allezeit. In diesem Sinn also nimmt die Seele Abschied von ihnen, und sie sind immerzu bei ihr.

Wenn einer einem Meister dient, so gehört er dem an, welchem er dient, nicht aber gehört der Meister ihm an. Doch kommt es gelegentlich vor, dass ein Diener sich bei einem Meister so viel Wissen und Verständnis aneignet, so dass er reicher und weiser wird als sein Meister. Dann kommt es soweit, dass der Diener seinen Meister verlässt, um einen besseren als ihn zu suchen. Wenn aber jener, der vormals sein Meister war, sieht, dass sein Schüler tüchtiger ist und mehr weiß als er selber, so tut er sich mit ihm zusammen und gehorcht ihm forthin in allem.

Genauso verhält es sich zwischen den Tugenden und diesen Seelen! Denn als anfänglich der Verstand der Lehrmeister der Seele war, tat die Seele alles, was er ihr beibrachte, was auch immer sie das an Leib und Seele gekostet hat. Der Verstand redete immerzu auf sie ein, sie möge alles tun, was die Tugenden wollten, ohne Widerrede, bis zum Tod. Der Verstand und die Tugenden waren eben die Lehrmeister der Seele, und die Seele gehorchte ihnen in allem, was sie ihr im Hinblick auf das geistliche Leben zu tun geboten.

Die Seele gewann und erreichte durch die Tugenden dermaßen viel, dass sie ihnen schließlich überlegen war, denn sie besaß alles, was die Tugenden wissen und sie lehren konnten, ja noch unvergleichlich mehr, hat doch diese Seele die Lehrmeisterin der Tugenden in sich, die da heißt: göttliche Liebe. Von dieser wurde sie völlig umgewandelt und mit ihr vereinigt, und deshalb gehört diese Seele weder sich selbst noch den Tugenden.

der verstand: Wem gehört sie dann?, sagt der Verstand.

die liebe: Ganz meinem Willen, sagt die Liebe, die ich sie in mich umgewandelt habe.

der verstand: Und wer seid Ihr, Liebe?, sagt der Verstand, dass ihr über uns steht? Seid Ihr nicht eine der Tugenden, also eine von uns?

die liebe: Ich bin Gott, sagt die Liebe. Denn die Liebe ist Gott, und Gott ist die Liebe [1 Joh 4,16]. Und diese Seele ist Gott durch Liebe in ihr. Ich bin Gott durch die göttliche Natur, und diese Seele ist Gott durch das Gesetz der Liebe. Daher wird diese meine kostbare Geliebte durch mich belehrt und geführt, ohne sie, denn sie hat sich in mich verwandelt und wird durch mich genährt.

11

die liebe: Als diese Seele mit der Liebe umhüllt wurde, nahm sie zwar noch in Eurer [des Verstandes] Schule Unterricht im Verlangen nach den Tugenden. Jetzt aber ist sie so weit fortgeschritten in der göttlichen Unterweisung, dass sie da zu lesen anfängt, wo Ihr damit aufhört. Diese Lehre wird allerdings nicht von Menschenhand niedergeschrieben, sondern vom Heiligen Geist, der diese Lehre auf wunderbare Weise aufschreibt, und die Seele ist dafür das kostbare Pergament. Die göttliche Unterweisung wird bei geschlossenem Mund erteilt, denn menschlicher Sinn vermag sie nicht in Worte zu fassen.

12

die liebe: Dem, was Ihr über die Tugenden und über Euch selbst sagt, Verstand, sagt die Liebe, schenkt die Seele keinerlei Beachtung. Sie hat besseres zu tun, hat doch die Liebe, die sie in sich umgewandelt hat, in ihr Wohnung genommen. Diese Seele ist selbst Liebe, und die Liebe kennt in sich keinen Unterschied. In allen Dingen ist ein Maß angebracht, ausgenommen in der Liebe. Ich gebe Euch ein Beispiel: Wenn ein Herr in seinen Ländereien das Lehensgeld einfordert, das ihm rechtens gebührt, so schuldet er seinerseits den Untertanen doch niemals einen Tribut; seine Untertanen hingegen sind in seiner Schuld. Gleichermaßen, sage ich Euch, Verstand, schulden mir alle Dinge, einschließlich die von Euch angeratenen und durch das Erwägen der Vernunft veredelten Tugenden, ihren Tribut, ausgenommen einzig derjenige, der von der Liebe gefangen genommen und in sie umgeformt ist. Dieser schuldet mir nur Liebe, und hierzu ist er befreit – befreit durch die Liebe.

13

der verstand: Ach was, Liebe, sagt der Verstand, sagt uns um Gottes willen, an welchem Punkt die Seele sich befindet, die aus Liebe gestorben ist.

die liebe: Sie hat mit der Welt Schluss gemacht, sagt die Liebe, und die Welt hat sich von ihr verabschiedet, und so lebt sie in Gott, und dort erreicht sie weder Sünde noch Laster. Sie ist so eingetaucht und eingewirkt in Gott, dass weder die Welt noch die Fleischeslust noch Dämonen ihr einen Schaden zufügen können, denn in ihren Werken vermögen sie es nicht, sie aufzuspüren. Solch eine Seele lebt in der Ruhe des Friedens, beachtet sie doch um ihretwillen kein geschaffenes Ding mehr. Und weil eine solche Seele so im Frieden ist, lebt sie in der Welt ohne irgendeine Beunruhigung.

die seele: Daran halte ich mich, sagt diese Seele, und deshalb fehlt mir nichts, weil ich ja nichts mehr will. Keine Seelen haben je vollkommenen Frieden, als solche, die keinen Willen mehr haben.

14

glaube, hoffnung und [nächsten–]liebe: O Heilige Dreieinigkeit!, sagen Glaube, Hoffnung und Liebe. Wo gibt es solch hohe Seelen, wie dieses Buch sie beschreibt? Wer sind sie? Wo sind sie? Was tun sie? Belehrt uns über sie durch die Liebe, die alles weiß, damit jene, die durch dieses Buch verstehen wollen, befriedigt werden.

der verstand: Wer, bei Gott, weiß es?, sagt der Verstand.

die liebe: Einzig Gott selbst, sagt die Liebe, der sie erschaffen und erlöst hat und durch Glücksfall oftmals neu geschaffen um der Liebe willen, deretwegen allein sie isoliert, aufgelöst und vergessen sind.

Wie kommt es, sagt die Liebe, dass die Heilige Kirche darüber verwundert ist, dass die Tugenden diesen hohen himmlischen Seelen dienen? Warum sollten sie es nicht tun? Sind nicht alle Tugenden dieser Seele wegen gepriesen, beschrieben und angeordnet und nicht die Seele der Tugenden wegen? Es sind also diese Tugenden geschaffen, um solchen Seelen zu dienen, und solche Seelen sind erschaffen, um Gott gehorsam zu sein, um so die außergewöhnlichen Gaben der reinen Güte des göttlichen Adels in Empfang zu nehmen – Gaben, die Gott keinem Geschöpf zuteil werden lässt, das noch im Begehren und im Wollen verharrt. Wer diese Gaben erhalten möchte, darf weder von Begehren noch von Wollen geleitet sein, sonst werden sie ihm nicht zuteil.

Und wie sollte die Heilige Kirche diese Königinnen, diese Königstöchter, diese Schwestern des Königs und Gemahlinnen des Königs, erkennen? Die Heilige Kirche könnte sie nur dann vollkommen erkennen, wenn die Heilige Kirche in ihren Seelen wäre. Doch kein geschaffenes Ding hat Zutritt zu ihren Seelen, außer Gott allein, der die Seelen erschuf, so dass niemand solche Seelen erkennt, außer Gott, der in ihnen ist.

15

der verstand: Bei Gott!, sagt der Verstand. Was tun jene, deren Sein alles Denken überschritten hat?

die liebe: Sie sind emporgerissen zu dem, der auf dem Gipfel seines Berges ist, und sie sind hinabgestürzt in eben denselben, der in der Tiefe ihres Tales ist – in einem Nichtdenken, das in die geheime Kammer der allerhöchsten Reinheit solch vorzüglicher Seelen eingeschlossen und dort versiegelt ist. Diese Kammer kann niemand öffnen oder entsiegeln – und auch nicht verschließen, sollte sie offen stehen –, wenn nicht der sanfte Fernnahe, der zugleich sehr ferne und sehr nahe, sie schließt und öffnet, der allein die Schlüssel für sie hat, die kein anderer hat und auch nicht haben kann.

16

die liebe: Leider, Verstand, sagt die Liebe, werdet Ihr auf einem Auge immer blind bleiben, ihr selbst genauso wie alle, die mit Euren Schulmeinungen groß geworden sind! Denn der ist wirklich blind, der die Dinge vor seinen Augen hat, sie aber überhaupt nicht erkennt. Und so steht es um Euch.

17

die seele: Menschlicher Verstand und menschlicher Sinn verstehen nichts von innerlicher Liebe, noch innerliche Liebe etwas von Gottesgelehrtheit. Mein Herz ist so hoch hinaufgezogen wie tief hinabgesunken, dass ich damit an kein Ende komme. Denn alles, was man von Gott sagen oder schreiben kann oder von ihm denken kann – Gott, der größer ist als alles, was jemals gesprochen wurde –, all das ist eher Lüge als Wahrheit.

18

die seele: Jetzt sind die Schuldigkeiten untereinander vertauscht, sagt die Seele zum Verstand, und das mit gutem Grund. Denn der Adel der hohen Güte meines Bräutigams lässt es nicht zu, dass ich weiterhin in Euren Diensten bleibe, wie auch in keines anderen. Es ist ja nötig, dass der Bräutigam die Braut, die er in seinem Willen erwählt hat, aus der Untertanenschaft befreie.

die liebe: Das ist die Wahrheit, überaus liebenswerte Seele, sagt die Liebe, ich bekräftige es und gestehe es Euch zu.

der verstand: Ah, um Gottes willen, Frau Seele!, sagt der Verstand. Denkt, redet und tut, was immer Ihr wollt, wenn die Liebe es autorisiert und bestätigt.

die seele: Oh Verstand!, sagt diese Seele, wie plump Ihr seid! Die Liebe will und räumt mir ein, dass ich rede, denke und tue, was immer ich will. Und warum sollte sie dies nicht tun?, sagt die Seele. Was getan wird, ist in Übereinstimmung mit ihr, denn von mir aus kann ich nichts tun, wenn nicht mein Geliebter selbst es in mir bewirkt. Wundert Ihr Euch etwa darüber, sagt die Seele zum Verstand, dass er will, was ich will? Das Wollen liegt erforderlicherweise doch stets bei ihm, da ich nichts will, außer das, was er in mir will und von dem er will, dass ich es wolle. Hierin schenkt er mir Ruhe durch seine Zuvorkommenheit, in der er will, was ich will, und nicht will, was ich nicht will. Und davon, Verstand, habe ich den Frieden, sagt diese Seele, weil er und ich darin übereingekommen sind.

19

die liebe: Reue und Vorwürfe des Gewissens in der Seele bedeuten nichts anderes als einen Mangel an Liebe. Die Seele ist jedoch zu nichts anderem erschaffen als dazu, das Wesen der reinen Liebe unendlich in sich zu tragen.

20

der adel der güte der liebe: Die Seele erreicht durch das Licht des Verstehens Nähe und Verbindung und, durch die Eintracht der Vereinigung in fruchtbarer Liebe, erlangt sie das hohe Sein, auf das sie hingerichtet ist, um darin Ruhe und Gleichgewicht zu finden. Bereitwillig lauscht sie da dem Verstehen und dem Licht, die ihr Nachricht von ihrer Liebe übermitteln. Denn von der Liebe ist sie ausgegangen, und dorthin will sie zurückkehren, um nur noch einen einzigen Willen in der Liebe zu haben: Das ist der einzige Wille dessen, den sie liebt.

21

die liebe: Beruhigt Euch, so liebenswerte Seele. Euer Wille genügt Eurem Geliebten. Er lässt Euch durch mich mitteilen, Ihr möget Vertrauen in ihn haben, und dass er nichts lieben will ohne Euch, wie auch Ihr nichts lieben sollt ohne ihn.

die seele: Ein Ding genügt mir, Frau Liebe, ich will es Euch nennen: Das ist derjenige, den ich mehr liebe als mich selbst. Und nichts anderes liebe ich, wenn nicht seinetwegen, hat er doch das in sich, was keiner außer ihm fassen kann, wie Ihr mir sagtet. Weil ich ihn also mehr liebe als mich selbst, und weil er die Essenz alles Guten ist und mein Herr und mein Gott und mein Alles, ist er mein alleiniger Trost. Wenn ich daher kraftlos bin auf Grund eines Mangels, so bin ich doch ganz und gar dadurch gestärkt, dass ihm nichts fehlt. Denn er besitzt in sich ein Übermaß alles Guten ohne den geringsten Mangel. Und das ist mir der absolute Friede und die wahrhafte Ruhe meines Denkens, denn ich liebe einzig und allein seinetwegen. Deshalb kommt meine Liebe an kein Ende mit der Liebe: Immerzu empfängt sie neue Liebe von dem, der selbst die Liebe ist, wie groß auch immer sie ist.

22

die seele: Weit, weit mehr, hunderttausend gegen eins, sind mir die unerschöpflichen Güter, die in ihm bleiben, lieber, als die Gaben, die ich bereits von ihm erhalten habe oder die ich noch erhalten werde. So liebe ich mehr, was in ihm ist und außerhalb meines Erkenntnisvermögens, als das, was sowohl in ihm als auch in meinem Geist ist.

Aus diesem Grund gehört mir eigentlicher, was er erkennt, was ich aber nie erkennen werde, als das, was ich von ihm erkenne und was mir angehört. Wo das Mehr meiner Liebe ist, dort ist mein größter Schatz.

Und deshalb liebe ich sein Mehr, das ich niemals erkennen werde, inniger, als das Weniger, das ich erkennen werde, und darum gehört er mir auf Grund des Mehrs der Liebe, so wie die Liebe selbst es bezeugt.

23

die liebe: Das Sinnen der reinen Liebe hat nur eine einzige Absicht, die ist: aufrichtig zu lieben, ohne dafür einen Lohn zu erwarten. Und dies kann die Seele nur verwirklichen, wenn sie nicht mehr an sich gebunden ist.

die seele: Ganz gewiss!, sagt die Seele. Wer recht liebt, denkt nicht daran, zu nehmen oder zu verlangen, hingegen will er immerzu geben, ohne etwas zurückzubehalten, um in rechter Weise zu lieben. Denn wer bei einem Werk zwei Absichten hätte, würde die eine durch die andere entkräften. Und darum hat die aufrichtige Liebe nur eine einzige Absicht, und die ist: beständig aufrichtig zu lieben. Denn an der Liebe ihres Geliebten hat sie keinerlei Zweifel: dass er nur das mache, was das Beste sei.

24

die seele: Hey, bei Gott! Warum sollte ich etwas tun, was mein Geliebter nicht tut? Ihm fehlt nichts, warum sollte also mir etwas fehlen? Wahrlich, ich müsste sehr irren, wenn mir etwas fehlen würde, nachdem ihm nichts fehlt. Ihm fehlt nichts, also fehlt auch mir nichts.

Und dieser Punkt nimmt die Eigenliebe von mir und übergibt mich ihm, unmittelbar und rückhaltlos.

Ich habe gesagt, spricht diese Seele, dass ihm nichts fehlt – warum sollte also mir etwas fehlen? Er sucht nichts – warum sollte ich dann etwas suchen? Er denkt nicht – warum sollte ich denn denken?

25

die liebe: Diese Seele, sagt die Liebe, ist Herrin der Tugenden, Tochter der Gottheit, Schwester der Weisheit und Braut der Liebe.

die seele: Wahrhaftig, sagt die Seele, aber das scheint dem Verstand als eine absonderliche Rede – was freilich nicht verwunderlich ist, denn in einer kurzen Weile wird er nicht mehr sein. Ich aber war, sagt diese Seele, und ich bin, und ich werde unfehlbar immer sein, denn die Liebe hat keinen Anfang, kein Ende und keine Grenze, und ich bin nichts anderes als Liebe. Wie könnte er also ein Teil von mir sein? Es ist nicht möglich.

26

die seele: Da er niemals, das heißt ohne Ende, etwas lieben wird ohne mich, behaupte ich denn, es folge daraus, dass er niemals je irgendetwas ohne mich geliebt hat. Weiters, da er durch die Liebe ohne Ende in mir sein wird, wurde ich von ihm auch ohne Anfang geliebt.

der verstand: Passt auf, was Ihr sagt, Frau Seele!, sagt der Verstand. Habt Ihr vergessen, dass Ihr erst vor kurzem erschaffen wurdet und Ihr einst nicht wart? Bei Gott, liebenswürdige Seele, gebt Acht, dass Ihr nicht in Irrtum fallt!

die seele: Wenn ich, an dieser Auffassung festhaltend, irre, Herr Verstand, sagt die Seele, dann irrt die Liebe mit mir, die mich dies glauben und denken und aussprechen lässt.

der verstand: So beweist, Frau Seele, was Ihr erklärt!

die seele: Boah, Verstand, sagt die Seele, wie langweilig Ihr doch seid, und was für Mühe und Kummer doch all jene haben, die nach Eurem Rat leben! Verstand, sagt die Seele, wenn ich von den drei Personen der Dreieinigkeit unendlich geliebt bin, wurde ich auch ohne Anfang von ihnen geliebt. Denn wie er mich in seiner Güte unendlich lieben wird, ganz ebenso war ich im Wissen seiner Weisheit gewesen und demnach erschaffen durch das Wirken seiner göttlichen Macht. Da ich also, seit Gott ist, der ohne Anfang ist, im göttlichen Wissen existiert habe, und zwar so, dass ich kein Ende haben würde, liebte er folglich von da an, sagt die Seele, in seiner Güte das Werk, das er in mir kraft seiner göttlichen Macht vollbringen wollte.

die liebe: Das ist die Wahrheit, sagt die Liebe, denn seit damals wollte er sich nicht zurückhalten, Euch zu lieben, genauso wenig wie jetzt.

27

der verstand: Zum wem denn sprecht Ihr, sagt der Verstand.

die seele: Zu all jenen, sagt sie, die nach Eurem Rat leben, die Dummköpfe sind, Esel, im Hinblick auf deren Grobheit ich mein Reden lieber vor ihnen verbergen will, als offen zu sprechen. Ich erkläre, sagt die Seele, dass ich ihrer Grobheit wegen schweigen und meine Sprache verheimlichen muss, die ich in der Verborgenheit am geheimnisreichen Hof des lieblichen Landes lernte, in dem Land, in dem Zuvorkommen das Gesetz ist und Liebe das Maß und Güte die Speise, dessen Süßigkeit mich anzieht, dessen Schönheit mich erfreut, dessen Güte mich sättigt. Was kann ich denn dafür, dass ich im Frieden lebe?

28

die liebe: Diese Seele, sagt die Liebe, ist nun frei und sogar mehr als frei, ungemein frei, ja über hoch frei, in ihrer Wurzel, an ihrem Stamm, in ihren Ästen und in all ihren Früchten an ihren Zweigen. Diese Seele hat ihr volles Maß an Freiheit, und jeder Teil von ihr trägt sie voll ihn sich. Wenn sie es nicht will, antwortet sie niemandem, wenn jener nicht dieselbe Herkunft hat. Ein Edelmann ließe sich gewiss nicht dazu herab, einem Gemeinen Rede zu stehen, wenn dieser ihn zu sich zitierte oder ihn auf einem Schlachtfeld riefe. Und darum findet keiner eine solche Seele, wenn er sie herbeizitierte. Ihre Feinde erhalten keine Antwort von ihr.

Diese Seele, sagt die Liebe, ist gehäutet durch Abtötung alles Fleisches und lebendig verbrannt durch die Hitze des Liebesfeuers, und ihre Asche ist ins gewaltige Meer der Willenlosigkeit geworfen. Eine Seele von dieser Art sucht Gott weder durch Bußübung noch durch ein Sakrament einer Heiligen Kirche, weder durch Gedanken noch durch Worte noch durch Werke; weder durch eine Kreatur hier unten noch durch ein Geschöpf da oben; weder durch Gerechtigkeit noch durch Erbarmen; weder durch die Herrlichkeit der Herrlichkeit noch durch die Erkenntnis Gottes noch durch Gottesliebe noch durch Gotteslob.

29

die liebe: Und da diese Seele nun in all ihren Seinsweisen frei ist, verliert sie ihren Namen; denn sie steigt in die Oberhoheit auf. Und darum verliert sie ihren Namen in dem Einen, in den sie durch ihn und in ihm verschmolzen und rückverwandelt wurde. Genauso wie es bei einem Wasser geschieht, das außerhalb des Meeres fließt, das einen Namen hat, man könnte sagen wie bei der Oise oder Seine oder wie bei einem anderen Fluss. Kehrt dieses Wasser oder der Fluss wiederum ins Meer zurück, verliert es seinen Lauf und seinen Namen, unter dem es viele Länder durchflossen hat und das Seinige gewirkt hat. Nun ist es im Meer, wo es ausruht und alles Mühen aufgegeben hat. Ebenso verhält es sich mit dieser Seele.

30

die liebe: Nun hat diese Seele ihren richtigen Namen, sagt die Liebe, vom Nichts, in dem sie wohnt. Und da sie nichts ist, macht sie sich keine Sorgen, weder um sich selber noch um ihren Nächsten, ja nicht einmal um Gott selbst. Denn sie ist so winzig, dass sie nicht auffindbar ist, und jedes geschaffene Etwas ist so weit von ihr entfernt, dass sie es nicht empfindet. Und Gott ist so groß, dass sie von ihm nichts erfassen kann. Und wegen ihres Nichtsseins ist sie in die Geborgenheit des Nichtwissens und Nichtwollens gefallen. Und dieses Nichts, von dem wir sprechen, sagt die Liebe, gibt ihr alles, und keiner könnte dies auf andere Weise erlangen.

Diese Seele, sagt die Liebe, ist gefangen und festgehalten im Land des vollkommenen Friedens, denn sie befindet sich unaufhörlich in voller Befriedigung, in der sie, umfangen von göttlichem Frieden, eintaucht und dahingleitet und schwebt, ohne jede Bewegung ihres Inneren und ohne jede Einwirkung von außen. Denn diese beiden Dinge würden ihr den Frieden benehmen, würden sie von ihr Besitz ergreifen können. Sie vermögen es jedoch nicht, da sie [die Seele] sich im oberhoheitlichen Dasein befindet, wo keiner sie durch irgendetwas belasten oder stören kann. Wirkt sie [diese Seele] aber nach außen, geschieht das stets ohne sie. Wirkt Gott sein Werk in ihr, so tut er das zwar in ihr, aber ohne sie, und um ihretwillen. Eine solche Seele ist dadurch nicht mehr belastet, als ihr Engel damit, sie zu behüten. Ein Engel aber ist dadurch, dass er uns behütet, nicht mehr belastet, als würde er uns nicht behüten. Genauso ist eine solche Seele durch das, was sie ohne sich tut, nicht belastet, geradeso als wenn sie es nicht täte, denn es ist nichts von ihr mit dabei. Alles hat sie hingegeben, aus freien Stücken und ohne ein Warum, denn sie ist die Geliebte des Bräutigams ihrer Jugend. Er ist die Sonne, die strahlt und wärmt und die aus ihm hervorgegangenen Lebewesen ernährt. Diese Seele hat weder Zweifel noch Schmerzen mehr in sich.

31

die liebe: Diese Seele trägt den Abdruck Gottes, und dieser Abdruck wird durch die Vereinigung in der der Liebe beibehalten. Und in derselben Weise, wie das Wachs die Form des Siegels annimmt, hat die Seele die Prägung durch das wahre Urbild erhalten.

32

die liebe: Diese Seele ist der Gottheit natürlich ähnlich. Denn sie hat sich verwandelt in Gott, sagt die Liebe, wodurch sie sich ihre wahre Gestalt erhalten hat, die ihr gewährt und gegeben wurde ohne Anbeginn vom einzig Einen, der sie in seiner Güte schon immer geliebt hat.

die seele: Ich ruhe ganz und gar im Frieden, sagt diese Seele, allein und nichts und alles seiend, ausschließlich durch das Zuvorkommen der Güte Gottes, ohne auch nur eine einzige Bewegung meines Willens, der ja nur irgendeinen Reichtum im Außen anstreben würde. Das ist das Endziel meines Wirkens, sagt diese Seele: Beständig nichts zu wollen. Denn so lange ich nichts will, spricht diese Seele, bin ich allein in ihm, ohne mich, absolut ungebunden. Aber wenn ich etwas will, sagt sie, bin ich bei mir, und damit habe ich die Freiheit verloren. Will ich jedoch nichts, dann habe ich alles außerhalb meines Wollens verloren, und so fehlt mir nichts: Frei sein ist alles, was ich bin. Ich will von niemandem etwas.

33

die liebe: Diese Seele, sagt die Liebe, ist eingetreten in die Fülle des Reichtums der göttlichen Liebe, und zwar nicht, sagt die Liebe, durch die Erlangung der Gotteserkenntnis – denn es ist nicht möglich, dass irgendein Verständnis [und wäre es noch so erleuchtet] etwas vom Strömen der göttlichen Liebe erfassen könnte.

Die Liebe einer solchen Seele aber ist mit dem übermäßigen Strömen dieser göttlicher Liebe so vereint – nicht etwa durch das Erlangen eines Verständnisses der Liebe, sondern durch das Erlangen dessen in der Liebe, das dieses übersteigt –, dass sie geschmückt ist mit der Zier dieses höchsten Friedens, in dem sie lebt und bleibt und ist und war und sein wird ohne eigenes Sein.

Gleich wie das Eisen, das von Feuer umlodert ist, seine eigene Erscheinung verloren hat, weil das Feuer, das es in sich verwandelt hat, stärker ist, so wird diese Seele gleichfalls vollständig eingehüllt in Seine Größe und genährt und verwandelt in Seine Größe, durch die Größe Seiner Liebe, ohne irgendeinen Mangel zu spüren. So bleibt sie und wird verwandelt in diesem transzendenten und unwandelbaren Frieden, ohne dass jemand sie finden könnte. Diese Seele liebt im lieblichen Land des ewigen Friedens, und dort gibt es nichts, das jenen, die da lieben, förderlich oder abträglich sein könnte, weder ein Geschöpf noch eine überreichte Gabe noch irgendetwas, das Gott versprochen hat.

der verstand: Was ist es also?, sagt der Verstand.

die liebe: Das, was noch niemals gegeben wurde, auch nicht gegeben ist und niemals gegeben wird, dieses Etwas hat sie nackt gemacht und vernichtigt, ohne dass sie sich um irgendein Ding, das ist, kümmerte, und sie begehrt dann weder Beistand noch Unterstützung, weder von Gottes Macht noch von seiner Weisheit noch von seiner Güte.

Die Seele spricht von ihrem Geliebten, und das tut sie so: Er ist, sagt die Seele, und daran fehlt es ihm niemals. Und ich bin nicht, und so fehlt es auch mir an nichts. Und er hat mir Frieden gegeben, und ich lebe nur von diesem Frieden, der durch seine Gaben in meiner Seele geboren wurde ohne denken.

die liebe: Diese Seele lässt die Toten die Toten begraben und die Sich-Bekümmernden die Tugendwerke vollbringen, und sie ruht sich aus vom Weniger im Mehr und bedient sich dabei doch aller Dinge.

34

die liebe: Eine solche Seele gleicht immerzu jemandem, der betrunken ist. Einen Betrunkenen kümmert es nicht, was ihm passieren könnte, ob er Glück hat oder nicht. Wenn es ihn aber kümmerte, so wäre er nicht völlig betrunken. Hat diese Seele also noch ein Wollen, so heißt das, dass sie noch nicht fest einpflanzt ist und leicht noch fallen kann, wenn sie von Unglück oder von Glück bedrängt wird. Sie ist dann nicht ganz, weil sie noch nicht nichts ist, da sie noch ein Wollen hat.

35

die liebe: Im Gegensatz zur freien Seele kann das Leben, über das wir schon gesprochen haben und das wir »Leben aus dem Geist« nannten, den Frieden nicht haben, wenn der Leib nicht allezeit das Gegenteil dessen tut, was er will. Das heißt, dass solche Leute das Gegenteil ihrer Sinnlichkeit tun, andernfalls sie sich in diesem Leben die Verdammnis zuzögen, lebten sie nicht das Gegenteil ihrer Genüsse. Solche aber, die frei sind, handeln genau entgegengesetzt! Während diejenigen im Leben aus dem Geist das Gegenteil ihres Willens tun müssen, wenn sie den Frieden nicht verlieren wollen, tun die Freien, umgekehrt, alles, was ihnen gefällt, wenn sie den Frieden nicht verlieren wollen, denn sie sind bereits im Zustand der Freiheit angelangt, das heißt, sie sind von den Tugenden in die Liebe gestürzt und von der Liebe ins Nichts.

Sie tun nichts, wenn es ihnen nicht gefällt, und täten sie es, so nähmen sie sich selbst den Frieden, die Freiheit und den Adel. Denn die Seele ist nicht vollkommen geläutert, bis dass sie tut, was ihr gefällt, und bis dass sie keine Reue mehr wegen ihres Tuns empfindet.

Sie hat das Rote Meer überquert, ihre Feinde sind darin umgekommen. Ihre Lust ist Unser Wille auf Grund der reinen Einheit im Willen der Gottheit, in den Wir sie eingeschlossen haben. Ihr Wille ist der Unsere, denn sie ist aus der Gnade in die Vollkommenheit der Tugendwerke gelangt und von den Tugenden in die Liebe und von der Liebe ins Nichts und vom Nichts in die Klarheit Gottes, die durch die Augen seiner Majestät sich selbst schaut und die sie in diesem Punkt durch sich selbst geklärt hat. Sie ist so in ihm aufgelöst, dass sie weder sich selber noch ihn sieht, und darum sieht er sich in seiner göttlichen Güte ganz allein.

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die heilige kirche: Ihr Vornehme und Redegewaltige [Seele], wie weise Ihr sprecht! Ihr seid der wahre Stern, der den Tag kündet, und die Sonne ohne Flecken, die nicht beschmutzt werden kann, und der ganze volle Mond, der niemals abnimmt, und Ihr seid die Oriflamme, die vor dem König hergeht! Ihr lebt einzig vom Korn, Ihr, die Ihr keinen Willen mehr habt. Jene aber leben von Stroh, von Kleie und von grobem Futter, die noch immer nach Menschenwillen handeln. Solche Leute sind dem Gesetz unterworfene Sklaven! Aber Ihr steht über dem Gesetz, nicht aber gegen das Gesetz. Sondern darüber. Die Wahrheit bezeugt es: Ihr seid trunken und satt: Gott ist in Eurem Willen.

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die seele: Ach, süßeste göttliche Liebe, die Ihr in der Dreieinigkeit seid! Es ist eine derartige Beglückung, dass ich mich wundere, wie jene fortbestehen können, die von Verstand und Furcht regiert werden, von Begierde, Werk und Willen, und die nichts wissen vom großen Adel des Seins im Unsagbaren.

die heilige dreieinigkeit: O himmlischer Stein!, sagt die Heilige Dreieinigkeit. Ich bitte Euch, liebe Tochter, lasst es gut sein! Es gibt keinen noch so hohen Kleriker auf der Welt, der Euch davon etwas zu sagen wüsste. Ihr seid an meiner Tafel gesessen, und ich habe Euch mein Festmahl gereicht, und Ihr seid so gut unterwiesen, und Ihr habt meine Speise vollständig genossen und meine Weine aus vollem Fass, deren Ihr so voll seid, dass allein schon ihr Bouquet Euch trunken macht, und daran wird sich auch nichts ändern. Nun habt Ihr mein Festmahl genossen, und Unsere Weine Euch schmecken lassen, sagt die Heilige Dreieinigkeit. Niemand außer Euch weiß davon zu sprechen, und darum seid Ihr nicht mehr fähig, Euer Herz etwas anderem zu geben, um keinen Preis. Ich bitte Euch, liebe Tochter, meine Schwester und meine Freundin, um der Liebe willen darin einzuwilligen, dass Ihr nichts weiter von diesen Geheimnissen sagt, wisst Ihr doch: Die anderen würden sich Verderben zuziehen durch das, wodurch Ihr Euch errettet, da Verstand und Begierde sie regieren und Furcht und Wille. Wisse dennoch, meine erwählte Tochter, das Paradies wird ihnen gegeben!

die erwählte seele: Das Paradies?, sagt diese Erwählte. Ihr gewährt ihnen nichts weiter? Auch die Mörder werden es haben, wenn sie nur nach Gnade schreien wollen! Trotzdem will ich darüber schweigen, da Ihr es wünscht. So will ich zum Abschied der edlen Liebe Liedverse singen:

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die seele: Ich war so dumm, als ich noch versklavt war, dass ich es aus der Tiefe meines Herzens gar nicht ausdrücken kann. Und so lange ich ihnen [den Tugenden] untertan war, und so lange ich ihnen innigst gegeben war, da ließ mich die Liebe auf einmal voller Freude von ihr sprechen hören. Und wenngleich ich so einfältig war und gar nicht verstehen konnte, so berührte es mich dennoch so dass ich die Liebe lieben wollte.

Und als die Liebe bemerkte, wie ich an sie dachte, da wies sie mich der Tugenden wegen nicht zurück. Sie befreite mich vielmehr aus ihrem niedrigen Dienst und führte mich in die göttliche Schule. Und da behielt sie mich ohne Gegenleistung, und da wurde ich durch sie erfüllt und gesättigt.

Denken bedeutet mir nichts mehr, auch Tun und Reden nicht. Die Liebe hat mich so emporgehoben – denken nützt mir da nichts mehr –, durch ihren göttlichen Anblick, sind alle Wünsche verflogen. Denken ist bedeutungslos geworden, so wie auch mein Tun und Reden.

Die Liebe ließ mich durch ihr Entgegenkommen diese Liedverse erfinden. Dies geschieht durch die reine Gottheit, von der die Vernunft nicht zu sprechen versteht. Und durch meinen einzigen Freund, der keine Mutter hat und der hervorgegangen ist aus Gott, dem Vater, und auch Gott, dem Sohn. Sein Name ist Heiliger Geist, mit dem ich in meinem Herzen so verbunden bin, dass es mich mit Freude erfüllt. Dies ist das Weideland, das der Liebende in Liebe gibt. Ich will nichts von ihm erbitten, dies wäre eine allzu große Übeltat, ich will mich lieber anvertrauen dieser Liebe des Liebenden.

Oh edler Freund, Ihr seid hoch zu preisen! Großzügig und wohlwollend ohne Maß seid Ihr, der Gipfel aller Güte, Ihr wollt nichts mehr tun, mein Freund, ohne meinen Willen. Auch darf ich nicht verschweigen Eure Schönheit, Eure Güte. Machtvoll seid Ihr für mich und weise, das kann ich nicht verschweigen. Doch – wem soll ich das erzählen? Selbst Seraphin hat keine Worte dafür.

Freund, du hast mich in deine Liebe eingeschlossen, um mir deinen großen Schatz zu schenken, nämlich dich selbst, der du die himmlische Güte bist. Kein Herz könnte dafür Worte finden. Doch reines Nichtwollen erahnt es, es hat mich so emporgehoben in diese Verbindung des Herzens mit dem Herzen, doch dieses kann ich nicht enthüllen.

Ich war einst eingesperrt in die Sklaverei der Gefangenschaft in der Zeit, als sehnsuchtsvolle Wünsche mich gefangen hielten. Doch dann hat mich das brennende Licht der göttlichen Liebe gefunden, das mein Wünschen, Wollen und Sehnen alsbald ersterben ließ – die hatten mich davon abgehalten, mich ganz der göttlichen Liebe hinzugeben.

Nun hat das göttliche Licht mich aus dem Gefängnis befreit, und hat mich aus Freundlichkeit dem göttlichen Wollen der Liebe verbunden, da wo die Dreieinigkeit die Lust ihrer Liebe mir schenkt. Kein Mensch kennt diese Gabe, solange er noch irgendeiner Tugend unterworfen bleibt oder irgendeinem menschlichen Gefühl, das ihm der Verstand vermittelt.

Ach Freund, was werden die Beginen sagen und die religionsgebundenen Leute, wenn sie die Vortrefflichkeit Eueres göttlichen Liedes vernehmen? Die Beginen werden sagen, dass ich irre – so auch die Priester, Kleriker und Prediger, die Augustiner, Karmeliten und die klösterlichen Brüder –, weil ich von der vollendete Liebe schreibe. Ihr Verstand wird sie durch seine Einflüsterungen nicht retten! Begehren, Wollen und Furcht versperren ihnen mit Sicherheit den Weg zur Erkenntnis und zum Erleben der Vereinigung mit dem hohen Licht der Inbrunst der göttlichen Liebe.

Die Wahrheit kündet es meinem Herzen, dass ich von dem Einzigen geliebt bin. Und sie sagt, es gelte ohne Widerruf, dass er mir seine Liebe geschenkt. Diese Gabe ertötet mein Denken durch die Wonne seiner Liebe. Diese Wonne sie erhebt mich und wandelt mich um durch Vereinigung in die ewig währende Freude, aus der göttlichen Liebe zu sein. Und die göttliche Liebe sagt mir, sie sei in mich eingegangen, und darum vermag sie da, was immer sie will. Solche Kraft hat sie mir verliehen als ein Geschenk des Liebenden, dem ich mich hingegeben habe, der will, dass ich ihn liebe, und den ich immer lieben werde.

Ich habe gesagt, ich wolle ihn lieben: Ich lüge, dies bin nicht mehr ich. Er allein ist es, der liebt – mich. Er ist und ich bin nicht mehr. Nichts sonst ist mehr von Bedeutung, als was er will und was ihm teuer ist. Er ist Fülle, und ich bin erfüllt von ihr. Das ist der göttlichen Kern, das ist die wahre Liebe.

Das Buch ist zu Ende.

Marguerite Porete, Le Miroir des simples âmes anéanties
Übersetzung: Siglinde Schnitzler
Auswahl und Reihung: Andreas Marschler