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Ludwig Feuerbach

1

In vino veritas, das ist ein alter, ein recht schöner und probater Spruch. Aber ich sehe nur nicht ein, warum wir allein dem Wein die Kraft beilegen wollen, die Zunge zu lösen und die Geheimnisse der Seele zu offenbaren. Wir können mit gleichem Recht sagen: in amore veritas, in gaudio veritas, in dolore veritas , denn in Liebe, Freude, Schmerz wirft der Mensch die Schranken und Rücksichten weg, die er sonst beobachtet, und enthüllt so sein wahres Wesen.

Wir können überhaupt sagen, dass sich da ein Wesen zu erkennen gibt, wo es sich frei, unbedingt, rücksichtslos ausspricht, denn nur da gibt es sich ein entschiedenes und charaktervolles, ein absolut bestimmtes Dasein. Wo glaubt ihr denn zum Beispiel die Natur reiner Leidenschaft, par exemple der Liebe erkennen zu können? Etwa da, wo die Brust ausgepolstert ist mit einem ganzen Wust voll anderweitiger Interessen, Sorgen und Rücksichten, sodass die Pfeile Cupidos durch den Watt nicht durchdringen, höchstens nur einen leichten Ritz auf der Haut bewirken können, oder nicht vielmehr da, wo das entblößte, das frank und freie Herz von seinen Pfeilen sich bis auf den Grund durchbohren lässt? Etwa da, wo sie sich in einer solchen gemäßigten Temperatur erhält, dass sie nur den Appetit und die Verdauungsgeschäfte befördert, oder nicht vielmehr da, wo sie sich bis zur tragischen Glut, bis auf jenen Gipfel des Enthusiasmus emporschwingt, wo die auf der platten Ebene unübersteiglich erscheinenden Grenzen der höchsten Gegenstände des Lebens als ein unbemerkbares Nichts von ihr verschwinden?

Ja, bei einiger Energie des Denkens werdet ihr die Behauptung nicht zu kühn finden, dass die Natur so mancher Sache sich wahrhafter ausspricht und besser, unendlich besser in solchen Menschen und Handlungen zu erkennen gibt, die man gewöhnlich verrückte, exzentrische, unmoralische, ja verbrecherische nennt, weil sie die Sache mit freier, rücksichtsloser Entschiedenheit aussprechen, als in solchen Menschen und Handlungen, die wir als verständige und moralische bezeichnen, weil sie die Sache mit tausenderlei fremden Rücksichten und Interessen vermischt und beschränkt ausdrücken. Wo in aller Welt wollt ihr noch ein Wesen erkennen, wenn nicht da, wo es unvermischt, frei von allen fremden Ingredienzien, darum absolut bestimmt sich darstellt?

2

Wer hätte nicht die Macht der Liebe erfahren oder wenigstens von ihr gehört? Wer ist stärker, die Liebe oder der individuelle Mensch? Hat der Mensch die Liebe oder hat nicht vielmehr die Liebe den Menschen? Wenn die Liebe den Menschen bewegt, selbst mit Freuden für den Geliebten in den Tod zu gehen, ist diese den Tod überwindende Kraft seine eigene individuelle Kraft oder nicht vielmehr die Kraft der Liebe?

3

Die Liebe stärkt das Schwache und schwächt das Starke, erniedrigt das Hohe und erhöht das Niedrige. Sie ist das Band, das Vermittlungsprinzip zwischen dem Vollkommenen und Unvollkommenen, dem sündlosen und sündhaften Wesen, dem Allgemeinen und Individuellen, dem Gesetz und dem Herzen, dem Göttlichen und Menschlichen.

4

Der Verstand urteilt nur nach der Strenge des Gesetzes; das Herz akkommodiert sich, ist billig, nachsichtig, rücksichtsvoll. Dem Gesetz, das nur die moralische Vollkommenheit uns vorhält, genügt keiner; aber darum genügt auch das Gesetz nicht dem Menschen, dem Herzen. Das Gesetz verdammt; das Herz erbarmt sich auch des Sünders. Das Gesetz bejaht mich nur als abstraktes, das Herz als wirkliches Wesen. Das Herz gibt mir das Bewusstsein, dass ich Mensch, das Gesetz nur das Bewusstsein, dass ich Sünder, dass ich nichtig bin. Das Gesetz unterwirft sich den Menschen, die Liebe macht ihn frei.

5

Alle Handlungen des Menschen lassen sich aus Liebe ableiten, in allen lässt sie sich finden und erkennen. Es ist unmöglich, dass der Mensch bloß für sich selbst sei; würde er das bloße, unverhüllte Fürsichsein und Selbst ertragen können, so würde er das Unerträglichste, das Nichts, ertragen können. Ein bloßes Fürsichsein würdest du nicht vom Nichts unterscheiden können. Sein ist beziehungsreiche Fülle, inhaltsvolle Verbindung, der unerschöpfliche Schoß der mannigfaltigsten Zusammenhänge. Was ist, ist notwendig mit Anderem, in Anderem, für Anderes. Sein ist Gemeinschaft, Fürsichsein Isolierung, Ungemeinschaftlichkeit. Aber das Nichts ist eben auch das Ungemeinschaftlichste, Isolierteste, Ungeselligste, was es nur immer in der Welt gibt, wenn es anders ein Nichts gäbe, gleich wie es Fische und Bäume gibt.

6

Der Mensch liebt und muss lieben. Aber die Liebe desselben ist sehr unterschieden, und ihre Wahrheit und ihr Wert bemessen sich nach dem Inhalt und Umfang des Geliebten. Je tiefer der Inhalt ist, der der Gegenstand seiner Liebe ist, desto größer ist auch sein Umfang; und nach diesem Umfang des geliebten Gegenstandes lässt sich der Wert der Liebe so bestimmen: Je mehr du von deinem Selbst aufgibst, desto größer und wahrer ist deine Liebe. Denn lieben kann man nicht, ohne sich selbst aufzugeben; denn liebend lebe ich mich in ein Anderes hinein; ich setze mich, mein Wesen, nicht in mich selbst, sondern in den Gegenstand, den ich liebe; ich binde mein Sein an das Sein eines Anderen; ich bin nur in dem Anderen, mit dem Anderen, für das Andere; bin ich nicht liebend nur für mich, so setze ich liebend mich für ein Anderes, ich habe kein eigenes, kein Fürmichsein mehr, das Sein des Anderen ist mein Sein. Der Mensch, wie er nicht liebt, bloß für sich ist, ist da nur noch ein natürliches Wesen, sein Sein ist natürlich selbstständiges, unvermitteltes. Aber das sittliche, das Menschenwesen des Menschen ist eben, sein bloßes natürliches Selbstsein aufzugeben, einen Grund seines Seins sich zu setzen, durch ein Anderes zu sein, in dem Sein eines Anderen den Grund seines Seins zu haben. So macht der Liebhaber die Geliebte zum Grund seines Seins; indem er sie liebt, hat er sein Sein begründet, abhängig gemacht, er hat nun einen Grund von seinem Leben und für sein Leben gefunden. Alle Liebe, alle Liebesarten haben dies gemeinschaftlich, dass sie Selbstaufgebung, Selbstopferung sind; der Liebhaber verbrennt sein dürres, trockenes Selbst und Eigensein wie Schwefelholz im Feuer der Liebe.

Dieses Selbstaufgeben ist wahrer oder unwahrer, größer oder geringer je nach dem Umfang des Gegenstandes. Es kommt darauf an, ob der Gegenstand von dem Umfang ist, dass er das ganze Selbst des Menschen aufnimmt und in sich fasst, oder ob er von solchem engen Umfang ist, dass das Selbst keinen Platz darin hat, dass es ausgeschlossen wird, dass [um das Unteilbare zu teilen] ein Teil des Selbstes innen ist, ein Teil außen in dem sich aufgebenden Selbst unaufgegeben zurück und übrig bleibt.

Ehrfurcht, Geldsucht und dergleichen Begierden sind eben darum so schauerliche, zerstörende, an Narrheit grenzende Leidenschaften, weil der Mensch zwar sein Selbst aufgibt, aber an Dinge, die sein Selbst nicht fassen können; denn das Selbst des Menschen ist unendlicher, von größerem Umfang, als dass es in Dinge von so engem und beschränktem Raum eingehen könnte. Der Geizhals zum Beispiel ist daher in dem Geld und zugleich außer dem Geld, abhängig von ihm und zugleich unabhängig; er gibt sein Selbst an einen Gegenstand auf, an den er sein Selbst nicht aufgeben kann, und welcher daher ihm immer sein unaufgegebenes, unerfülltes, unbefriedigtes Selbst zurückgibt und wiederspiegelt. Es ist daher dieser schauerliche Widerspruch in ihm vorhanden, dass er arm in Reichtum, leer bei aller Fülle ist. Die Leidenschaft verkehrt sich daher auch, als ein Zustand der Zerrüttung, in die Begierde, den Gegenstand zu verschlingen, statt vielmehr von ihm sich verzehren zu lassen.

Aber der wahrhaftige Mensch, er als sittlicher, als denkender, als religiöser hat sein Wesen gesetzt nicht in Gegenstände, die unter, sondern die über seinem Selbst sind. Er schaut an und hat sein Wesen weder in und an sich selbst noch an Dingen, die unter ihm sind, sondern sein Ich ist der Gegenstand über seinem Ich, ein Anderes, das unendlich ist, sein ganzes Selbst in sich fasst. Sein Leben ist ein ununterbrochenes Opferfest; sein Selbst ist frei geworden. Sein Ich, sein Innerstes ist sein Anderes selbst, ist eben der unendliche Gegenstand, in dem er aufgegangen ist.

7

Was ist die Liebe? Keineswegs nur konservative Lebenswärme, sondern zugleich auch ein verzehrendes Feuer, keineswegs nur deine Bejahung, sondern ebenso deine Verneinung. Die Liebe erzeugt und vernichtet, gibt Leben und nimmt Leben; sie ist Sein und Nichtsein in einem Leben und Tod als ein Leben. Du bist nur, wenn du liebst, Sein ist erst Sein, wenn es Sein der Liebe ist, aber zugleich geht in der Liebe dein persönliches Dasein, dein abgesondertes Fürsichsein zugrunde. Du bist nur noch in dem geliebten Gegenstand, alles außer ihm, du selbst ohne ihn bist dir nichts.

8

Du kannst nicht sagen, dass Gott die Liebe sei, wenn du sie ihm nur in Beziehung auf dich zuschreibst, wenn du in ihm nur Bestimmungen erkennst, die Affirmationen deines persönlichen Daseins sind, wenn du dich nur in ihm enthalten und bestätigt findest, nur dir in ihm Platz machst, alles Andere aus ihm verdrängend. Erkennst du in Gott nur die Bestimmungen, die die Subjekte nur zu Subjekten machen, nicht gleichfalls die Bestimmungen, die das Objekt zum Objekt, die Natur zur Natur machen, so ist dein Gott nicht Liebe, Wesen und Substanz, sondern nur die aufs Höchste gesteigerte, die absolute Ich- und Selbstheit, wenn du gleich dieselbe als selbstständiges, von dir unterschiedenes Wesen vorstellst. Gott ist dann nur nicht bloß ein subjektives, sondern auch ein objektives, ein absolutes Wesen, wenn du ihn nicht bloß unter die Bestimmungen befasst, in welchen du ein Ich bist, sondern auch unter die Bestimmungen, vermittelst welcher ein Nicht-Ich, ein Ding ist, wenn du also in ihm eben sowohl den Anfang und Grund deiner Persönlichkeit und Existenz, als auch das Ende, die Negation derselben enthalten findest. Gott ist nicht bloß ein dich bejahender, sondern auch ein dich verneinender Gott; er ist nicht bloß der Anfang und das Ende aller Dinge, sondern auch der Anfang und das Ende deiner selbst.

Um dir dein Ende zu vergegenwärtigen, brauchst du nicht erst auf den Kirchhof zu spazieren, jeder Gegenstand außer dir kann dir den Tod deines Selbst vergegenwärtigen; jeder Rippenstoß, jeder Druck von außen ist ein lebendiges Memento mori. Da nun aber Gott nicht bloß ein Gott des Selbstes, sondern auch ein Gott der Natur, da in Gott nicht nur die Bestimmung der Persönlichkeit, also nicht du allein, sondern auch die Bestimmung der Objektivität, folglich die Dinge und Wesen außer dir in ihm enthalten sind, so ist folglich auch in Gott die Grenze, das Ende, die Verneinung deines persönlichen Daseins, deines Ichs enthalten, und Gott hast du also eben sowohl als den Grund deines Todes zu erkennen wie du ihn als den Grund deines Daseins anerkennst.

9

Die Liebe idealisiert die Materie und materialisiert den Geist. Lieben heißt vom Geist aus: den Geist, von der Materie aus: die Materie aufheben.

10

Liebe ist Materialismus; immaterielle Liebe ist ein Unding. In der Sehnsucht der Liebe nach dem entfernten Gegenstand bekräftigt der abstrakte Idealist wider Willen die Wahrheit der Sinnlichkeit. Aber zugleich ist die Liebe der Idealismus der Natur; Liebe ist Geist, Esprit. Nur die Liebe macht die Nachtigall zur Sängerin; nur die Liebe schmückt die Befruchtungswerkzeuge der Pflanze mit einer Blumenkrone. Und welche Wunder tut nicht die Liebe selbst in unserem gemeinen bürgerlichen Leben! Was der Glaube, die Konfession, der Wahn trennt, das verbindet die Liebe.

11

Die Liebe ist die wahre Einheit von Gott und Mensch, von Geist und Natur. In der Liebe ist die gemeine Natur Geist und der vornehme Geist Natur.

12

Die Liebe macht den Menschen zu Gott und Gott zum Menschen.

13

Was die alten Mystiker von Gott sagten, dass er sei das höchste und doch das gemeinste Wesen, das gilt in Wahrheit von der Liebe, und zwar nicht einer erträumten, imaginären Liebe, nein, von der wirklichen Liebe, von der Liebe, die Fleisch und Blut hat!

14

Wunder wirkt namentlich die Liebe und zwar die Geschlechterliebe. Mann und Weib berichten und ergänzen sich gegenseitig, um so vereint erst die Gattung, den vollkommenen Menschen darzustellen. Ohne Gattung ist die Liebe undenkbar. Die Liebe ist nichts anderes als das Selbstgefühl der Gattung innerhalb des Geschlechtsunterschieds. In der Liebe ist die Wahrheit der Gattung, die sonst nur eine Vernunftsache, ein Gegenstand des Denkens ist, eine Gefühlssache, eine Gefühlswahrheit, denn in der Liebe spricht der Mensch seine Ungenügsamkeit an seiner Individualität für sich aus, postuliert er das Dasein des Anderen als ein Herzensbedürfnis, rechnet er den Anderen zu seinem eigenen Wesen, erklärt er nur sein durch die Liebe mit ihm verbundenes Leben für wahres menschliches, dem Begriff des Menschen, d. i. der Gattung entsprechendes Leben. Mangelhaft, unvollkommen, schwach, bedürftig ist das Individuum; aber stark, vollkommen, befriedigt, bedürfnislos, selbstgenugsam, unendlich die Liebe, weil in ihr das Selbstgefühl der Individualität das Selbstgefühl der Vollkommenheit der Gattung ist.

15

An dem Anderen habe ich erst das Bewusstsein der Menschheit; durch ihn erst erfahre, fühle ich, dass ich Mensch bin; in der Liebe zu ihm wird mir erst klar, dass er zu mir und ich zu ihm gehöre, dass wir beide nicht ohne einander sein können, dass nur die Gemeinsamkeit die Menschheit ausmacht.

16

Die Liebe weiß ihren Gegenstand nicht mehr zu beglücken, als dass sie ihn mit ihrer persönlichen Gegenwart erfreut, dass sie sich sehen lässt. Den unsichtbaren Wohltäter von Angesicht zu Angesicht zu schauen, ist das heißeste Verlangen der Liebe. Sehen ist ein göttlicher Akt. Seligkeit liegt im bloßen Anblick des Geliebten. Der Blick ist die Gewissheit der Liebe. Und die Inkarnation soll nichts sein, nichts bedeuten, nichts wirken als die zweifellose Gewissheit der Liebe Gottes zum Menschen. Die Liebe bleibt, aber die Inkarnation auf der Erde geht vorüber; die Erscheinung war eine zeitlich und räumlich beschränkte, wenigen zugängliche; aber das Wesen der Erscheinung ist ewig und allgemein. Wir sollen noch glauben an die Erscheinung, aber nicht um der Erscheinung, sondern um des Wesens willen; denn uns ist nur geblieben die Anschauung der Liebe.

17

Du glaubst an die Liebe als eine göttliche Eigenschaft, weil du selbst liebst, du glaubst, dass Gott ein weises, ein gütiges Wesen ist, weil du nichts Besseres von dir kennst als Güte und Verstand, und du glaubst, dass Gott existiert, dass er also Subjekt oder Wesen ist – was existiert, ist Wesen, werde es nun als Substanz oder Person oder sonst wie bestimmt und bezeichnet –, weil du selbst existierst, selbst Wesen bist. Du kennst kein höheres menschliches Gut, als zu lieben, als gut und weise zu sein, und ebenso kennst du kein höheres Glück, als überhaupt zu existieren, Wesen zu sein; denn das Bewusstsein alles Guten, alles Glückes ist dir an das Bewusstsein des Wesenseins, der Existenz gebunden. Gott ist dir ein Existierendes, ein Wesen aus demselben Grund, aus welchem er dir ein weises, ein seliges, ein gütiges Wesen ist.

18

Wie der Mensch denkt, wie er gesinnt ist, so ist sein Gott: So viel Wert der Mensch hat, so viel Wert und nicht mehr hat sein Gott. Das Bewusstsein Gottes ist das Selbstbewusstsein des Menschen, die Erkenntnis Gottes die Selbsterkenntnis des Menschen. Aus seinem Gott erkennst du den Menschen und wiederum aus dem Menschen seinen Gott; beides ist eins. Was dem Menschen Gott ist, das ist sein Geist, seine Seele, und was des Menschen Geist, seine Seele, sein Herz, das ist sein Gott: Gott ist das offenbare Innere, das ausgesprochene Selbst des Menschen; die Religion die feierliche Enthüllung der verborgnen Schätze des Menschen, das Eingeständnis seiner innersten Gedanken, das öffentliche Bekenntnis seiner Liebesgeheimnisse.

19

Der klarste, unwidersprechlichste Beweis, dass der Mensch in der Religion sich als göttlichen Gegenstand, als göttlichen Zweck anschaut, dass er also in der Religion nur zu seinem eigenen Wesen, nur zu Sich selbst sich verhält – der klarste, unwidersprechlichste Beweis ist die Liebe Gottes zum Menschen, der Grund und Mittelpunkt der Religion. Gott entäußert sich um des Menschen willen seiner Gottheit. Hierin liegt der erhebende Eindruck der Inkarnation: Das höchste, das bedürfnislose Wesen demütigt, erniedrigt sich um des Menschen willen. In Gott kommt daher mein eigenes Wesen mir zur Anschauung; ich habe für Gott Wert; die göttliche Bedeutung meines Wesens wird mir offenbar. Wie kann denn der Wert des Menschen höher ausgedrückt werden, als wenn Gott um des Menschen willen Mensch wird, der Mensch der Endzweck, der Gegenstand der göttlichen Liebe ist? Die Liebe Gottes zum Menschen ist eine wesentliche Bestimmung des göttlichen Wesens: Gott ist ein mich, den Menschen überhaupt liebender Gott. Darauf ruht der Akzent, darin liegt der Grundaffekt der Religion. Gottes Liebe macht mich liebend; die Liebe Gottes zum Menschen ist der Grund der Liebe des Menschen zu Gott: Die göttliche Liebe verursacht, erweckt die menschliche Liebe.

20

Was liebe ich in und an Gott? Die Liebe, und zwar die Liebe zum Menschen. Wenn ich aber die Liebe liebe und anbete, mit welcher Gott den Menschen liebt, liebe ich nicht den Menschen, ist meine Gottesliebe nicht, wenn auch indirekte, Menschenliebe? Ist denn nicht der Mensch der Inhalt Gottes, wenn Gott den Menschen liebt? Ist nicht das mein Innigstes, was ich liebe? Habe ich ein Herz, wenn ich nicht liebe? Nein! Die Liebe ist nur das Herz des Menschen. Aber was ist die Liebe ohne das, was ich liebe? Was ich also liebe, das ist mein Herz, das ist mein Inhalt, das ist mein Wesen. Warum trauert der Mensch, warum verliert er die Lust zum Leben, wenn er den geliebten Gegenstand verloren? Warum? Weil er mit dem geliebten Gegenstande sein Herz, das Prinzip des Lebens, verloren. Liebt also Gott den Menschen, so ist der Mensch das Herz Gottes – des Menschen Wohl seine innigste Angelegenheit. Ist also nicht, wenn der Mensch der Gegenstand Gottes ist, der Mensch sich selbst in Gott Gegenstand? Nicht der Inhalt des göttlichen Wesens das menschliche Wesen, wenn Gott die Liebe, der wesentliche Inhalt dieser Liebe aber der Mensch ist? Nicht die Liebe Gottes zum Menschen, der Grund und Mittelpunkt der Religion, die Liebe des Menschen zu sich selbst, vergegenständlicht, angeschaut als die höchste Wahrheit, als das höchste Wesen des Menschen? Ist denn nicht der Satz: „Gott liebt den Menschen “ ein Orientalismus – die Religion ist wesentlich orientalisch –, welcher auf Deutsch heißt: Das Höchste ist die Liebe des Menschen?

21

Das Bewusstsein der Liebe ist es, wodurch sich der Mensch mit Gott oder vielmehr mit sich, mit seinem Wesen, welches er im Gesetz als ein anderes Wesen sich gegenüberstellt, versöhnt. Das Bewusstsein der göttlichen Liebe oder, was eins ist, die Anschauung Gottes als eines selbst menschlichen Wesens ist das Geheimnis der Inkarnation, der Fleisch- oder Menschwerdung Gottes. Die Inkarnation ist nichts anderes als die tatsächliche, sinnliche Erscheinung von der menschlichen Natur Gottes. Seinetwegen ist Gott nicht Mensch geworden; die Not, das Bedürfnis des Menschen – ein Bedürfnis, das übrigens heute noch ein Bedürfnis des religiösen Gemüts – war der Grund der Inkarnation. Aus Barmherzigkeit wurde Gott Mensch – er war also schon in sich selbst ein menschlicher Gott, ehe er wirklicher Mensch ward; denn es ging ihm das menschliche Bedürfnis, das menschliche Elend zu Herzen. Die Inkarnation war eine Träne des göttlichen Mitleids, also nur eine Erscheinung eines menschlich fühlenden, darum wesentlich menschlichen Wesens.

Wenn man sich in der Inkarnation nur an den menschgewordenen Gott hält, so erscheint freilich die Menschwerdung als ein überraschendes, unerklärliches, wunderbares Ereignis. Allein der menschgewordene Gott ist nur die Erscheinung des gottgewordenen Menschen; denn der Herablassung Gottes zum Menschen geht notwendig die Erhebung des Menschen zu Gott vorher. Der Mensch war schon in Gott, war schon Gott selbst, ehe Gott Mensch wurde, das heißt, sich als Mensch zeigte. Wie hätte sonst Gott Mensch werden können? Der alte Grundsatz: „Aus Nichts wird Nichts“ gilt auch hier. Ein König, der nicht auf dem Herzen das Wohl seiner Untertanen trägt, der nicht schon auf dem Thron mit seinem Geist in den Wohnungen derselben weilt, nicht schon in seiner Gesinnung, wie das Volk spricht, ein „gemeiner Mann“ ist, ein solcher König wird auch nicht körperlich von seinem Thron herabsteigen, um sein Volk zu beglücken mit seiner persönlichen Gegenwart. Ist also nicht schon der Untertan zum König emporgestiegen, ehe der König zum Untertan herabsteigt? Und wenn sich der Untertan durch die persönliche Gegenwart seines Königs geehrt und beglückt fühlt, bezieht sich dieses Gefühl nur auf diese sichtbare Erscheinung als solche oder nicht vielmehr auf die Erscheinung der Gesinnung, des menschenfreundlichen Wesens, welches der Grund dieser Erscheinung ist?

22

Die Liebe bestimmte Gott zur Entäußerung seiner Gottheit. Nicht aus seiner Gottheit als solcher, nach welcher er das Subjekt ist in dem Satz: Gott ist die Liebe, sondern aus der Liebe, dem Prädikat kam die Verleugnung seiner Gottheit; also ist die Liebe eine höhere Macht und Wahrheit als die Gottheit. Die Liebe überwindet Gott. Die Liebe war es, der Gott seine göttliche Majestät aufopferte. Und was war das für eine Liebe? Eine andere als die unsrige, als die, der wir Gut und Blut opfern? War es die Liebe zu sich, zu sich als Gott? Nein, die Liebe zum Menschen! Aber ist die Liebe zum Menschen nicht menschliche Liebe? Kann ich den Menschen lieben, ohne ihn menschlich zu lieben, ohne ihn so zu lieben, wie er selbst liebt, wenn er in Wahrheit liebt?

Gott liebt, indem er den Menschen liebt, den Menschen um des Menschen willen, das heißt, um ihn gut, glücklich, selig zu machen. Liebt er also nicht so den Menschen, wie der wahre Mensch den Menschen liebt? Hat die Liebe überhaupt einen Plural? Ist sie nicht überall sich selbst gleich? Was ist also der wahre, unverfälschte Text der Inkarnation als der Text der Liebe schlechtweg, ohne Beisatz, ohne Unterschied göttlicher und menschlicher Liebe? Denn wenn es auch eine eigennützige Liebe unter den Menschen gibt, so ist doch die wahre menschliche Liebe, die allein dieses Namens würdige, diejenige, welche dem Anderen zu Liebe das Eigene aufopfert. Wer ist also unser Erlöser und Versöhner? Gott oder die Liebe? Die Liebe; denn Gott als Gott hat uns nicht erlöst, sondern die Liebe, welche über den Unterschied von göttlicher und menschlicher Persönlichkeit erhaben ist. Wie Gott sich selbst aufgegeben aus Liebe, so sollen wir auch aus Liebe Gott aufgeben; denn opfern wir nicht Gott der Liebe auf, so opfern wir die Liebe Gott auf.

23

Die Liebe ist nicht dadurch heilig, dass sie ein Prädikat Gottes, sondern sie ist ein Prädikat Gottes, weil sie durch und für sich selbst göttlich ist.

24

Die Liebe identifiziert den Menschen mit Gott, Gott mit dem Menschen, darum den Menschen mit dem Menschen. Der Glaube trennt Gott vom Menschen, darum den Menschen von dem Menschen; denn Gott ist nichts anderes als der mystische Gattungsbegriff der Menschheit, die Trennung Gottes vom Menschen daher die Trennung des Menschen vom Menschen, die Auflösung des gemeinschaftlichen Bandes. Durch den Glauben setzt sich die Religion mit der Sittlichkeit, der Vernunft, dem einfachen Wahrheitssinn des Menschen in Widerspruch; durch die Liebe aber setzt sie sich wieder diesem Widerspruch entgegen. Der Glaube vereinzelt Gott, er macht ihn zu einem besonderen, anderen Wesen; die Liebe verallgemeint; sie macht Gott zu einem gemeinen Wesen, dessen Liebe eins ist mit der Liebe zum Menschen. Der Glaube entzweit den Menschen im Inneren, mit sich selbst, folglich auch im Äußeren; die Liebe aber ist es, welche die Wunden heilt, die der Glaube in das Herz des Menschen schlägt. Der Glaube macht den Glauben an seinen Gott zu einem Gesetz; die Liebe ist Freiheit.

25

Der Glaube ist das Gegenteil der Liebe. Die Liebe erkennt auch in der Sünde noch die Tugend, im Irrtum die Wahrheit. Darum ist die Liebe nur identisch mit der Vernunft, aber nicht mit dem Glauben; denn wie die Vernunft, so ist die Liebe freier, universeller, der Glaube aber engherziger, beschränkter Natur. Nur wo Vernunft, da herrscht allgemeine Liebe; die Vernunft ist selbst nichts anderes als die universale Liebe. Der Glaube hat die Hölle erfunden, nicht die Liebe, nicht die Vernunft. Der Liebe ist die Hölle ein Gräuel, der Vernunft ein Unsinn.

26

Das Christentum hat die Liebe nicht frei gegeben, sich nicht zu der Höhe erhoben, die Liebe absolut zu fassen. Und es hat diese Freiheit nicht gehabt, nicht haben können, weil es Religion ist – die Liebe daher der Herrschaft des Glaubens unterworfen. Die Liebe ist nur die exoterische, der Glaube die esoterische Lehre des Christentums – die Liebe nur die Moral, der Glaube aber die Religion der christlichen Religion.

27

Gott ist die Liebe. Dieser Satz ist der höchste des Christentums. Aber der Widerspruch des Glaubens und der Liebe ist schon in diesem Satz enthalten. Die Liebe ist nur ein Prädikat, Gott das Subjekt. Was ist aber dieses Subjekt im Unterschied von der Liebe? Und ich muss doch notwendig so fragen, so unterscheiden. Die Notwendigkeit der Unterscheidung wäre nur aufgehoben, wenn es umgekehrt hieße: Die Liebe ist Gott, die Liebe das absolute Wesen. In dem Satz „Gott ist die Liebe“ ist das Subjekt das Dunkel, hinter welches der Glaube sich versteckt; das Prädikat das Licht, das erst das an sich dunkle Subjekt erhellt. Im Prädikat betätige ich die Liebe, im Subjekt den Glauben. Die Liebe füllt nicht allein meinen Geist aus: Ich lasse einen Platz für meine Lieblosigkeit offen, indem ich Gott als Subjekt denke im Unterschied vom Prädikat. Es ist daher notwendig, dass ich bald den Gedanken der Liebe verliere, bald wieder den Gedanken des Subjekts, bald der Gottheit der Liebe die Persönlichkeit Gottes, bald wieder der Persönlichkeit Gottes die Liebe aufopfere.

28

Der Glaube hält sich an die Selbstständigkeit Gottes; die Liebe hebt sie auf. „Gott ist die Liebe“ heißt: Gott ist nichts für sich. Wer liebt, gibt seine egoistische Selbstständigkeit auf; er macht, was er liebt, zum Unentbehrlichen, Wesentlichen seiner Existenz. Aber zugleich taucht doch wieder, während ich in die Tiefe der Liebe das Selbst versenke, der Gedanke des Subjekts auf und stört die Harmonie des göttlichen und menschlichen Wesens, welche die Liebe gestiftet. Der Glaube tritt mit seinen Prätentionen auf und räumt der Liebe nur so viel ein, als überhaupt einem Prädikat im gewöhnlichen Sinn zukommt. Er lässt die Liebe sich nicht frei und selbstständig entfalten; er macht sich zum Wesen, zur Sache, zum Fundament. Die Liebe des Glaubens ist nur eine rhetorische Figur, eine poetische Fiktion des Glaubens – der Glaube in der Ekstase. Kommt der Glaube wieder zu sich, so ist auch die Liebe dahin.

Notwendig musste sich dieser theoretische Widerspruch auch praktisch betätigen. Notwendig; denn die Liebe ist im Christentum befleckt durch den Glauben, sie ist nicht frei, nicht wahrhaft erfasst. Eine durch den Glauben beschränkte Liebe ist eine unwahre Liebe. Die Liebe kennt kein Gesetz als sich selbst; sie ist göttlich durch sich selbst; sie bedarf nicht der Weihe des Glaubens; sie kann nur durch sich selbst begründet werden. Die Liebe, die durch den Glauben gebunden, ist eine engherzige, falsche, dem Begriff der Liebe, das heißt, sich selbst widersprechende Liebe, eine scheinheilige Liebe, denn sie birgt den Hass des Glaubens in sich; sie ist nur gut, solange der Glaube nicht verletzt wird. In diesem Widerspruch mit sich selbst verfällt sie daher, um den Schein der Liebe zu behalten, auf die teuflischsten Sophismen.

Die Liebe ist beschränkt durch den Glauben; sie findet daher auch die Handlungen der Lieblosigkeit, die der Glaube gestattet, nicht im Widerspruch mit sich; sie legt die Handlungen des Hasses, die um des Glaubens willen geschehen, als Handlungen der Liebe aus. Und sie verfällt notwendig auf solche Widersprüche, weil es schon an und für sich ein Widerspruch ist, dass die Liebe durch den Glauben beschränkt ist. Duldet sie einmal diese Schranke, so hat sie ihr eigenes Urteil, ihr eingeborenes Maß und Kriterium, ihre Selbstständigkeit aufgegeben; sie ist den Einflüsterungen des Glaubens widerstandslos preisgegeben. Die christliche Liebe hat nicht die Hölle überwunden, weil sie nicht den Glauben überwunden. Die Liebe ist an sich ungläubig, der Glaube aber lieblos. Ungläubig aber ist deswegen die Liebe, weil sie nichts Göttlicheres kennt als sich selbst, weil sie nur an sich selbst als die absolute Wahrheit glaubt.

29

Die Stoiker lehrten, der Mensch sei nicht um seinetwillen, sondern um der Anderen willen, das heißt, zur Liebe geboren – ein Ausspruch, der unendlich mehr sagt als das rühmlichst bekannte, die Feindesliebe gebietende Wort des Kaisers Antonin. Das praktische Prinzip der Stoiker ist insofern das Prinzip der Liebe. Die Welt ist ihnen eine gemeinsame Stadt, die Menschen Mitbürger.

Eine besondere Erscheinung dieser menschheitlichen Bestrebungen – die volkstümliche, populäre, darum religiöse, allerdings intensive Erscheinung dieses neuen Prinzips war das Christentum. Was anderwärts auf dem Wege der Bildung sich geltend machte, das sprach sich hier als religiöses Gemüt, als Glaubenssache aus. Darum machte das Christentum selbst wieder eine allgemeine Einheit zu einer besonderen, die Liebe zur Sache des Glaubens, aber setzte sie eben dadurch in Widerspruch mit der allgemeinen Liebe. Die Einheit wurde nicht bis auf ihren Ursprung zurückgeführt. Die Nationaldifferenzen verschwanden; dafür tritt aber jetzt die Glaubensdifferenz, der Gegensatz von christlich und unchristlich, heftiger als ein nationaler Gegensatz, hässlicher auch, in der Geschichte auf.

Alle auf eine besondere Erscheinung gegründete Liebe widerspricht, wie gesagt, dem Wesen der Liebe, als welche keine Schranken duldet, jede Besonderheit überwindet. Wir sollen den Menschen um des Menschen willen lieben. Der Mensch ist dadurch Gegenstand der Liebe, dass er Selbstzweck, dass er ein vernunft- und liebesfähiges Wesen ist.

Die Liebe soll eine unmittelbare Liebe sein, ja sie ist nur, als unmittelbare, Liebe. Schiebe ich aber zwischen den Anderen und mich, der ich eben in der Liebe die Gattung verwirkliche, die Vorstellung einer Individualität ein, in welcher die Gattung schon verwirklicht sein soll, so hebe ich das Wesen der Liebe auf, störe die Einheit durch die Vorstellung eines Dritten außer uns. Denn der Andere ist mir dann nur um der Ähnlichkeit oder Gemeinschaft willen, die er mit diesem Urbild hat, nicht um seinetwillen, das heißt um seines Wesens willen Gegenstand der Liebe. Es kommen hier alle Widersprüche wieder zum Vorschein, die wir in der Persönlichkeit Gottes haben, wo der Begriff der Persönlichkeit notwendig für sich selbst, ohne die Qualität, welche sie zu einer liebens- und verehrungswürdigen Persönlichkeit macht, im Bewusstsein und Gemüt sich befestigt.

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Die christliche Liebe ist schon dadurch eine besondere, dass sie christliche ist, sich christliche nennt. Aber Universalität liegt im Wesen der Liebe. Solange die christliche Liebe die Christlichkeit nicht aufgibt, nicht die Liebe schlechtweg zum obersten Gesetz macht, so lange ist sie eine Liebe, die den Wahrheitssinn beleidigt, denn die Liebe ist es eben, die den Unterschied zwischen Christentum und sogenanntem Heidentum aufhebt – eine Liebe, die durch ihre Besonderheit mit dem Wesen der Liebe in Widerspruch tritt, eine abnorme, lieblose Liebe, die daher längst auch mit Recht ein Gegenstand der Ironie geworden ist. Die wahre Liebe ist sich selbst genug; sie bedarf keiner besondern Titel, keiner Autorität. Die Liebe ist das universale Gesetz der Intelligenz und Natur – sie ist nichts anderes als die Verwirklichung der Einheit der Gattung auf dem Wege der Gesinnung. Soll diese Liebe auf den Namen einer Person gegründet werden, so ist dies nur dadurch möglich, dass mit dieser Person abergläubische Vorstellungen verbunden werden, seien sie nun religiöser oder spekulativer Art. Aber mit dem Aberglauben ist immer Sektengeist, Partikularismus, mit dem Partikularismus Fanatismus verbunden. Die Liebe kann sich nur gründen auf die Einheit der Gattung, der Intelligenz, auf die Natur der Menschheit; nur dann ist sie eine gründliche, im Prinzip geschützte, verbürgte, freie Liebe, denn sie stützt sich auf den Ursprung der Liebe, aus dem selbst die Liebe Christi stammte. Die Liebe Christi war selbst eine abgeleitete Liebe. Er liebte uns nicht aus sich, kraft eigener Vollmacht, sondern kraft der Natur der Menschheit. Stützt sich die Liebe auf seine Person, so ist diese Liebe eine besondere, die nur so weit geht, wie die Anerkennung dieser Person geht, eine Liebe, die sich nicht auf den eigenen Grund und Boden der Liebe stützt. Sollen wir deswegen uns lieben, weil Christus uns geliebt? Solche Liebe wäre affektierte, nachgeäffte Liebe. Können wir nur wahrhaft lieben, wenn wir Christus lieben? Aber ist Christus die Ursache der Liebe? Oder ist er nicht vielmehr der Apostel der Liebe? Nicht der Grund seiner Liebe die Einheit der Menschennatur? Soll ich Christus mehr lieben als die Menschheit? Aber solche Liebe, ist sie nicht eine schimärische Liebe? Kann ich über das Wesen der Gattung hinaus? Höheres lieben als die Menschheit? Was Christus adelte, war die Liebe; was er war, hat er von ihr nur zu Lehen bekommen; er war nicht Proprietär der Liebe, wie er dies in allen abergläubischen Vorstellungen ist. Der Begriff der Liebe ist ein selbstständiger Begriff, den ich nicht erst aus dem Leben Christi abstrahiere; im Gegenteil, ich anerkenne dieses Leben nur, weil und wenn ich es übereinstimmend finde mit dem Gesetz, dem Begriff der Liebe.

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Die Liebe zum Menschen darf keine abgeleitete sein; sie muss zur ursprünglichen werden. Dann allein wird die Liebe eine wahre, heilige, zuverlässige Macht. Ist das Wesen des Menschen das höchste Wesen des Menschen, so muss auch praktisch das höchste und erste Gesetz die Liebe des Menschen zum Menschen sein. Homo homini Deus est – dies ist der oberste praktische Grundsatz, dies der Wendepunkt der Weltgeschichte. Die Verhältnisse des Kindes zu den Eltern, des Gatten zum Gatten, des Bruders zum Bruder, des Freundes zum Freund, überhaupt des Menschen zum Menschen, kurz, die moralischen Verhältnisse sind an und für sich selbst wahrhaft religiöse Verhältnisse. Das Leben ist überhaupt in seinen wesentlichen Verhältnissen durchaus göttlicher Natur. Seine religiöse Weihe empfängt es nicht erst durch den Segen des Priesters. Die Religion will durch ihre an sich äußerliche Zutat einen Gegenstand heiligen, sie spricht dadurch sich allein als die heilige Macht aus; sie kennt außer sich nur irdische, ungöttliche Verhältnisse; darum eben tritt sie hinzu, um sie erst zu heiligen, zu weihen.

Aber die Ehe – natürlich als freier Bund der Liebe [ja, nur als freier Bund der Liebe; denn eine Ehe, deren Band nur eine äußerliche Schranke, nicht die freiwillige, in sich befriedigte Selbstbeschränkung der Liebe ist, kurz, eine nicht selbstbeschlossene, selbstgewollte, selbstgenuge Ehe ist keine wahre und folglich keine wahrhaft sittliche] – [die Ehe also] ist durch sich selbst, durch die Natur der Verbindung, die hier geschlossen wird, heilig. Nur die Ehe ist eine religiöse, die eine wahre ist, die dem Wesen der Ehe, der Liebe entspricht. Und so ist es mit allen sittlichen Verhältnissen. Sie sind nur da moralische, sie werden nur da mit sittlichem Sinn gepflogen, wo sie durch sich selbst als religiöse gelten. Wahrhafte Freundschaft ist nur da, wo die Grenzen der Freundschaft mit religiöser Gewissenhaftigkeit bewahrt werden, mit derselben Gewissenhaftigkeit, mit welcher der Gläubige die Würde seines Gottes wahrt.

32

Wir dürfen die religiösen Verhältnisse umkehren, das, was die Religion als Mittel setzt, immer als Zweck fassen, was ihr das Untergeordnete, die Nebensache, die Bedingung ist, zur Hauptsache, zur Ursache erheben, so haben wir die Illusion zerstört und das ungetrübte Licht der Wahrheit vor unseren Augen.

33

Wenn du von Gott sagst, er liebt, oder besser, er ist die Liebe, so gehst du schon über die Persönlichkeit Gottes hinaus. Denn das persönliche Wesen nur als persönliches liebt nicht, es ist nur ausscheidend und abstoßend; die Person, streng gefasst als Person, kann nicht lieben, sondern nur hassen, trennen, entzweien. Die Person muss, um zu lieben, ihr strenges und ausstoßendes Fürsichsein aufgeben können; aber sie kann es nicht aufgeben, wenn nicht in ihr sozusagen eine Stätte ist, wo sie nicht Person ist. Die Liebe ist nicht Insich- und Fürsichsein wie die Persönlichkeit, sondern Einssein, Gemeinsamsein. Du liebst also nicht kraft deiner Persönlichkeit, wodurch du dich von anderen abtrennst und unterscheidest, sondern kraft deines Wesens, deiner Natur, durch die du eins mit anderen bist. Du liebst also nur deswegen, weil du tiefer, weil du mehr als Person bist. Liebe ist nicht, wo nur Wesen, aber auch nicht, wo nur Person ist; Liebe ist Einheit der Persönlichkeit und Wesenheit, Liebe setzt eben sowohl Unterschied als Einheit voraus. Wo nur Wesen, da ist nur Einheit, wo nur Person, nur Unterschied. Nur in der Einheit beider wohnt die Liebe. Wie der alles empfunden, der die Liebe empfunden, so weiß auch der alles, der die Liebe erkannt hat. Erkenne sie, und du hast Gott und seine Konsequenz, den Tod erkannt.

34

Die Liebe wäre nicht vollkommen, wäre kein Tod. Die freie Tat des Menschen muss zugleich in der Natur als Notwendigkeit existieren, die geistige Aufgebung des Selbst zugleich eine natürliche, leibliche sein. An und für sich ist der Tod als natürlicher das letzte Versöhnungsopfer, die letzte Bewährung der Liebe. Der Tod hat seinen Mittelpunkt im Geist selber; bewegt sich um ihn wie ein Planet um seine Sonne. Indem du liebst, erklärst und anerkennst du die Nichtigkeit deines bloßen Fürdichselberseins, deines Selbsts; du erkennst nicht dich selber, sondern deinen geliebten Gegenstand als dein wahres Ich, als dein Wesen und Leben an.

So lange du nun lebst, lebst du in der Verneinung deiner selbst, in der ununterbrochenen Bestätigung der Nichtigkeit deines Selbsts zugleich in der Bejahung, in dem Genuss, in der Anschauung des geliebten Gegenstandes. Allein das Todesurteil, das du eben durch die Liebe, durch die Anerkennung der Wesenhaftigkeit deines Gegenstandes über dich selbst aussprichst, hätte keine Wahrheit in sich, wenn es nicht auch an deinem ganzen natürlichen Sein, an deinem Leben vollzogen würde, wenn deine Endlichkeit, die du in der Liebe durch die Verbindung mit dem Gegenstand aussprichst, nicht auch für sich selbst hervorträte, wenn nicht dein als solches einsames und verlassenes Fürdichsein selber als Fürsichsein offenbar würde, du nicht stürbest; denn der Tod ist eben die Offenbarung deines einsamen und verlassenen Fürsichseins. Die Unendlichkeit und Wesenhaftigkeit des geliebten Gegenstandes, in der Verbindung mit welchem und in der Begründung durch welchen du allein bist, Leben hast, die Notwendigkeit der Liebe und die Nichtigkeit deines bloßen Selbsts, deines Fürdichseins offenbart sich nur dadurch, dass dein Fürdichselbst-Sich-Setzen, dein Selbst, wenn es nur für sich ist, abgezogen und abgetrennt von dem Wesen und Leben in der Gegenständlichkeit überhaupt und besonders in dem geliebten Gegenstand, in dem Augenblick, wo es für sich selbst allein auftritt und sich lossagt von der Verbindung mit der Gegenständlichkeit und dem geliebten Inhalt, welche während des Lebens eine ununterbrochene oder doch nur durch Verbindungen anderer Art unterbrochene Verbindung ist, Nichts ist, Nichts wird. Ein Mal nur bist du reines Ich, bloßes Selbst, ein Mal nur für dich ganz allein, und dieser Augenblick ist der Augenblick des Nichtseins, des Todes. Und der Tod ist daher, eben weil er die Offenbarung deines Fürdichseins ist, in einem die Offenbarung der Liebe; es tritt in ihm dein Fürdichsein für sich selbst auf, aber eben darin, dass dieses Selbst im Augenblick der Isolierung tot, Nichts ist, in dem Augenblick, wo es ohne den Gegenstand sein will, nicht ist, ist er Offenbarung der Liebe, Offenbarung, dass du nur in und mit dem Gegenstand sein kannst.

35

Der Denkende, der tiefer Schauende überwindet den Tod, denn er erkennt den Tod als das, was er ist, als eine mit der sittlichen Freiheit verbundene Handlung. Er erblickt sich selbst im Tod, anerkennt in ihm seinen eigenen Willen, die Tat seiner eigenen Liebe und Freiheit. Er erkennt ja, dass im natürlichen Tod nicht erst der Tod beginnt, sondern sich schließt und endet; dass er nichts ist als eine Erhalation, Ausatmung des inneren und verborgenen Todes, dass in dem äußeren sinnlichen Tod nur der gefangene und verbundene Tod – denn der verbindende und gebundene Tod des Selbsts ist die Liebe – losgelassen, isoliert, entbunden wird, gleichwie die Pflanze die Stoffe, die sie eingeatmet und sich aufgenommen hat, wieder ausscheidet und ausdünstet. Wo soll denn der Tod herkommen, wenn er nicht aus deinem Innersten kommt? Kommt er etwa aus dem Beinhaus heraus, steigt er aus der Erde hervor und bricht wie der Dieb über Nacht in dir ein? Ist er etwa das Knochengerippe oder ein Mann, der selbstständiges Dasein hat? Mitnichten; er ist nur die Erscheinung des Aktes des inneren Ablösens, Trennens und Scheidens, die Bewahrheitung deiner Liebe, die Verkündigung, die du während deines ganzen Lebens im Stillen betätigt hast, dass du ohne und außer dem geliebten Gegenstand nichts bist. Aber ist denn Trennung noch ein Akt der Liebe? Wie kannst du so noch fragen? Der letzte, der äußerste und höchste Akt der Liebe.

Ludwig Feuerbach's sämmtliche Werke,  zehn Bände, Otto Wigand, Leipzig 1849
1, 5–8, 33–35: Dritter Band, Gedanken über Tod und Unsterblichkeit
2–4, 9–32: Siebenter Band, Das Wesen des Christenthums