Worte Bilder Töne Neu Impressum Reinhard
           

Einzelstimmen V

1

O Vater der Väter und Mutter der Mütter,
sei gegrüßt in der Tiefe des Himmels,
sei gegrüßt in deinen vier Himmelsrichtungen,
sei gegrüßt im Zenit und im Nadir,
sei gegrüßt in deinem südlichen Antlitz
und in deinem nördlichen Antlitz,
sei gegrüßt im Okzident und im Zodiak.

Die Menschen nennen dich Sonne,
aber ich gebe dir keinen Namen, o Herr der Ewigkeit,
der du mächtiger bist als dein Name.
Sei gegrüßt, o Meister der unzähligen Gesichter,
sei gegrüßt in deinen Tausenden von Jahren,
sei gegrüßt.

Wenn du erscheinst, o Auge des Himmels,
dann weicht die Finsternis vor dir,
dann vergraben sich die Larven im Schatten,
dann erbebt die Erde vor Freude,
und alle Lebewesen lachen,
werden zu Lachenden, Lachenden.
Sei gegrüßt, der du über den Himmel gleitest.

Du bist der Gnadenspender,
durch den alles Leben lächelt,
durch den jede Quelle atmet,
durch den jede Frucht zur Frucht wird,
durch den jeder Zahn zermalmt,
durch den jede Blüte zur Blüte wird,
durch den jedes Haar seinen Duft erhält.
Sei gegrüßt.

Du hast dich selbst erschaffen, o Herr der Formen,
dann hast du den ersten Morgen erschaffen,
und du hast den Abendhauch erschaffen;
dann hast du die Lebewesen hervorgebracht
und alle Güter für sie.
Sei gegrüßt, o Schöpfer, sei gegrüßt.

Du umhüllst dich mit einem solchen Licht, o Glorienschein,
dass man dein Mysterium nicht ergründen kann;
sei gegrüßt in deinem Mysterium.
Ich erhebe mich dir zur Ehre, o Greis,
und ich tanze dir zur Ehre mit Tänzen, o Kind,
das du jeden Tag neu geboren wirst.
Sei gegrüßt.

2

Du erscheinst so schön im Lichtorte des Himmels,
du lebendige Sonne, die zuerst zu leben anfing!
Du bist aufgeleuchtet im östlichen Lichtorte
und hast alle Lande mit deiner Schönheit erfüllt.

Du bist schön und groß, glänzend und hoch über allen Landen.
Deine Strahlen umfassen die Länder, bis zum Ende alles dessen, was du geschaffen hast;
du bist die Sonne und dringst bis an ihr äußerstes Ende.
Du bändigst sie deinem geliebten Sohn.
Du bist fern, und doch sind deine Strahlen auf der Erde;
du bist im Angesicht der Menschen, und doch kennt man deinen Weg nicht.

Gehst du zur Ruhe im westlichen Lichtorte,
so ist die Welt in Finsternis, wie im Tode.
Die Schläfer sind in der Kammer, die Häupter verhüllt,
nicht kann ein Auge das andere sehen.

Gestohlen werden alle ihre Sachen, während sie unter ihren Häuptern liegen;
sie merken es nicht.
Jedwedes Raubzeug kommt hervor aus seiner Höhle,
alles Gewürm beißt:
Die Finsternis ist für sie verlockend wie für andere Wesen eine Feuerstatt.
Die Welt liegt in Stille, denn der sie schuf, ist zur Ruhe gegangen in seinem Lichtorte.

Im Morgengrauen leuchtest du wieder auf
und glänzest aufs Neue als Sonne am Tage.
Du vertreibst die Finsternis,
sobald du deine Strahlen spendest.
Die beiden Länder sind in Feststimmung.
Die Menschen erwachen und stellen sich auf die Füße;
du hast sie sich erheben lassen.
Gewaschen wird ihr Leib, sie nehmen ihre Kleidung,
ihre Arme erheben sich in Anbetung, weil du erschienen bist.

Die ganze Welt tut ihre Arbeit;
alles Vieh befriedigt sich an seinem Kraut;
Bäume und Kräuter grünen.
Die Vögel fliegen auf aus ihrem Nest,
ihre Flügel erheben sich in Anbetung zu dir;
alles Wild hüpft auf den Füßen;
alles, was da fleucht und kreucht,
sie leben, nachdem du ihnen wieder aufgeleuchtet bist.

Die Schiffe fahren stromab und stromauf;
Jeder Weg ist wieder geöffnet, weil du erschienen bist.
Die Fische im Strome springen vor deinem Angesichte,
deine Strahlen dringen bis ins Innere des Meeres.
Der du den Samen sich entwickeln lässt in Weibern,
der du Wasser zu Menschen machst,
der du den Sohn am Leben erhältst im Leib seiner Mutter,
der du ihn beruhigst, sodass seine Tränen aufhören.
Amme im Mutterleib!

Der da Luft spendet, um am Leben zu erhalten jedes seiner Geschöpfe.
Steigt es aus dem Leibe der Mutter herab, um zu atmen, am Tage seiner Geburt,
so öffnest du alsbald seinen Mund vollkommen
und sorgst für seine Bedürfnisse.
Das Vöglein im Ei spricht ja schon im Stein;
du gibst ihm Luft in seinem Innern, um es am Leben zu erhalten.
Du hast ihm im Ei seine Frist gesetzt, es zu zerbrechen.
Es kommt hervor aus dem Ei, um zu sprechen, zu seiner Frist,
es geht auf seinen Füßen, sobald es aus ihm hervorkommt.

Wie zahlreich sind doch deine Werke;
sie sind verborgen dem Gesichte des Menschen,
du einziger Gott, außer dem es keinen anderen gibt!
Du hast die Erde geschaffen nach deinem Herzen,
du einzig und allein,
mit Menschen, Rinderherden und allem anderen Getier.
Alles was da ist auf der Erde, gehend auf Füßen,
was da ist in der Höhe, fliegend mit seinen Flügeln,
die Gebirgsländer Syrien und Ubien
und das Flachland Ägypten.

Du setzest jeden Mann an seine Stelle;
du sorgst für ihre Bedürfnisse;
ein jeder hat sein Essen,
berechnet ist seine Lebenszeit.
Die Zungen der Menschen sind geschieden im Sprechen,
ihre Art desgleichen;
ihre Haut ist unterschieden.

Unterschieden hast du die Völker:
Du schaffst den Nil in der Unterwelt,
du holst ihn herbei nach deinem Belieben,
um das Volk am Leben zu erhalten,
wie du sie dir geschaffen hast,
du, ihrer aller Herr,
der sich abmühte an ihnen.
Der Herr aller Lande,
der ihnen wieder aufleuchtet am Morgen.
Die Sonne des Tages, groß an Ansehen.

Alle Gebirgsländer in der Ferne, du sorgst für ihren Lebensunterhalt:
Du gabst einen Nil an den Himmel;
er steigt ihnen herab
und schafft Wasserfluten auf den Bergen,
um ihre Felder zu netzen mit ihrem Gebührenden.

Wie wohltätig sind doch dein Pläne, du Herr der Ewigkeit!
Der Nil am Himmel, er ist deine Gabe für die fremden Völker
und alles Wild im Gebirge, das da auf Füßen geht:
Der wahre Nil aber, er kommt aus der Unterwelt für Ägypten.

Deine Strahlen ernähren nach Ammen Weise alle Pflanzungen.
Wenn du aufleuchtest, so leben und wachsen sie für dich.
Du machst die Jahreszeiten, um sich entwickeln zu lassen alle deine Geschöpfe,
den Winter, um sie zu kühlen,
die Glut des Sommers, damit sie dich kosten.
Du hast den Himmel gemacht fern von der Erde,
um an ihm aufzuleuchten,
um alles, was du, einzig und allein du, geschaffen hast, zu sehen,
wenn du aufgeleuchtet bist in deiner Gestalt als lebendige Sonne,
erschienen und glänzend, fern und doch nah.

Du machst Millionen von Gestalten aus dir, dem Einen,
Städte, Dörfer, Äcker, Wege und Strom.
Alle Augen erblicken dich sich gegenüber,
indem du die Sonne des Tages bist über der Erde.
Wenn du davongegangen bist,
und wenn alle Augen, deren Gesicht du geschaffen hast,
damit du nicht mehr allein dich selbst sähest, schlummern,
und nicht einer mehr sieht, was du geschaffen hast,
so bist du doch noch in meinem Herzen.

Es gibt keinen anderen, der dich wirklich kennte,
außer deinem Sohne König Nefercheprurê-Wanrê;
du lässt ihn kundig sein deiner Pläne und deiner Macht.
Die Welt befindet sich auf deiner Hand,
wie du sie geschaffen hast.
Wenn du aufgeleuchtet bist, leben sie;
wenn du zur Ruhe gehst, sterben sie.
Du bist die Lebenszeit selbst, man lebt in dir.

Die Augen schauen Schönheit, bis du zur Ruhe gehst.
Niedergelegt werden alle Arbeiten, sobald du zur Ruhe gehst zur Rechten.
Wenn du wieder aufleuchtest, so lässt du jeden Armen sich rühren für den König,
und Eile ist in jedem Beine,
seit du die Welt gegründet hast.
Du erhebst sie wieder für deinen Sohn, der aus deinem Leibe hervorgekommen ist,  König Echnatôn und die Königin Nefernefruatôn-Nofretête.

3

Über die leuchtende Kraft,
die Brahma selbst ist
und das Licht der strahlenden Sonne genannt wird,
stelle ich Betrachtungen an,
geleitet durch das geheimnisvolle Licht,
das mir innewohnt als Kraft des Gedankens.

Dieses Licht ist die Erde
und der Äther
und alles, was besteht
innerhalb der erschaffenen Sphäre;
es ist die dreifache Welt,
enthaltend alles,
was unbeweglich oder beweglich.

Es besteht innerlich in meinem Herzen,
äußerlich in dem Kreise der Sonne,
indem es eins und dasselbe ist
mit dieser leuchtenden Kraft.

Ich selbst bin nur eine eingestrahlte Kraft
des höchsten Brahma.

1: Rainer Maria Rilke, Brief an Nanny Wunderly-Volkart, Insel, Frankfurt am Main 1977, Seite 126. Vorangehend sind die beiden folgenden Absätze:
   „Eben, da ich dies abschicken will, fällt mir ein, dass ich noch eine kleine Sonnen-Hymne hier habe. Doktor Mardrus, der vortreffliche Übersetzer von ‹Tausend und eine Nacht› (französisch, – er ist selber Tunesier, konnte also wirklich die arabischen Texte zu seiner Grundlage machen) hat auch, nach alten arabischen Erzählungen und Geschichten-Erzählungen die ‹Histoire de la Reine de Saba› zusammengefasst und kürzlich herausgegeben. Das kleine Bändchen enthält einzelne Verse im Text, darunter dieses Gebet an die Sonne, das man die kleine junge Königin von Saba, Balkis, an dem Morgen verrichten hörte, da sie, erwachend, über ihrem Herzen den Brief Salomos gefunden hat, gesiegelt mit dem Zaubersiegel. Der Wiedehopf-Vogel Yâfour hatte ihn nachts, auf Befehl seines Meisters, an ihr sachte hingelegt. Nun heißt es:
   «Und während sie wartete, dass die Ziehmutter komme, wollte sie die Anbetung nicht länger hinauszögern. Sie stellte sich auf ihre zwei bezaubernden Füße, schaute auf den Morgenstern, und die Arme wie zum Gruße ausgebreitet, psalmodierte sie diese Hymne, psalmodierend und beschwörend, gemäß dem Ritus, mit sanfter Stimme, mit dem Ton eines Sperlings, der den aufgehenden Mond begrüßt: …»“ [Übersetzung dieses in französischer Sprache geschriebenen Absatzes: Siglinde Schnitzler]

2: Amenophis IV., Echnaton: Sonnengesang, Übersetzung: Kurt Sethe unter Benutzung der Übersetzung von Norman de Garis Davies, in: Heinrich Schäfer, Armana in Religion und Kunst, J. C. Hinrichs, Leipzig 1931, Seiten 63 bis 70, abgedruckt in: Otto Eissfeldt, Kleine Schriften, Dritter Band, hrsg. von Rudolf Sellheim und Fritz Maas, C. J. B. Mohr (Paul Siebeck), Tübingen 1966 [Text enthält Ergänzungen zerstörter Stellen, Worte, die im Deutschen zur Verdeutlichung eingefügt wurden sowie Fragliches und wurde zudem sprachlich geringfügig vorsichtig geändert; Original auf Anfrage]

3: Gajatri, in: „Jahrbücher der Literatur“, Zweiter Band, April/Mai/Juni 1818, Carl Gerold, Wien 1818, Seite 302 [sprachlich geringfügig vorsichtig geändert; Original auf Anfrage]